TV-Tipp:
Nicht alle waren Mörder
Rede von Prof. Dr. Andreas Nachama zur Premiere des Films am
10.10.2006 im Delphi-Kino Berlin
Kann man sich die Situation für einen Juden im
nationalsozialistischen Deutschland heute vorstellen? Die Stiftung
Topographie des Terrors hat vor einigen Jahren eine Chronologie der
Judenverfolgung in Berlin 1933-1945 herausgegeben, die in einer schier
endlosen Reihung von Willkürmaßnahmen schon bei flüchtiger Durchsicht die
Frage aufkommen läßt: Wie konnte man unter solchen Bedingungen überhaupt
leben? Im Bayrischen Viertel bekommt man eine Ahnung davon, wenn es vor
einem Bäckerladen heißt, wann das Broteinkaufen verboten war oder vor einem
Radioladen, daß der Besitz oder Betrieb von Radioapparaten für Juden
verboten war. Was war überhaupt erlaubt? Selbst das Atmen in freier Luft war
eingeschränkt, war doch das Benutzen von Parkbänken für Juden verboten.
Ein Flüsterwitz aus dem Dritten Reich erzählt von der
Geschichte eines Berliner Juden, der in der Gestapo-Zentrale in der
Prinz-Albrecht-Straße verhört wurde. Das Verhör nimmt eine etwas private
Wendung, der Gestapo Beamte, ein Teilnehmer des ersten Weltkriegs der
aufgrund einer Kriegsverletzung nur noch ein Auge hatte, fordert den
Berliner Juden auf ihm in die Augen zu sehen, um dann zu sagen, welches
seiner beiden Augen ein Glasauge wäre. Der Blickt ihn prüfend an und sagt
ihm tatsächlich, welches Auge aus Glas ist. "Wie haben sie das
herausgefunden?" Die lakonische Antwort: "Es blickt so gütig!"
Die Historiker sagen: Es waren Willkürmaßnahmen. Man könnte ergänzen, es
waren sadistische Willkürmaßnahmen, gegen die sich kein Widerstand regte,
der das System in Frage gestellt hätte. Diejenigen, denen in der
Gedenkstätte Deutscher Widerstand ein Denkmal gesetzt ist, haben oft mit
ihrem Leben bezahlt – ihnen ist kein Vorwurf zu machen, denn mehr als sein
Leben kann kein Mensch geben. Aber, was ist mit den anderen?
Hier in Berlin haben ca. 1200 – 1500 Menschen jüdischer Herkunft überlebt,
im Untergrund – versteckt – oder in ehelicher Gemeinschaft mit
nichtjüdischen Deutschen, die trotz großen Drucks des NS-Staates sich von
ihren jüdischen Ehepartnern zu trennen, sich eben zu diesen bekannt haben
und ihnen dadurch das Leben gerettet haben. Deutsche, die "unbesungene
Heldinnen und Helden" sind. Liest man die Geschichten der versteckten
Jüdinnen und Juden nach, dann kann man sehr schnell feststellen, daß viele
von ihnen bis zu 20 Personen benennen oder erwähnen, die an ihrem Überleben
aktiven oder duldenden Anteil hatten. Viele von ihnen waren diejenigen, die
nach der Befreiung die jüdische Gemeinde in Berlin wiederaufbauten, die
bewußt in Berlin oder in Deutschland blieben oder nach kurzer Emigration
nach Berlin zurückkehrten, weil sie Hitlers Testament, Deutschland judenrein
zu machen, nicht erfüllen wollten.
"Nicht alle waren Mörder" – Michael Degen las kurz nach Erscheinen des
Buches bei einem der Gedenktage aus seinem Buch im Berliner Jüdischen
Gemeindehaus hier in der Fasanenstraße. Getreu dem Brechtschen Motte, "ich
lache über den Weinenden" gab es dabei auch einige Passagen, an denen die
Zuhörer schmunzelten, ja ein leises Glucksen durch das Publikum ging. Nach
der Veranstaltung kam ein nach 1945 geborener Alters- und Glaubensgenosse
auf mich zu und sagte mir, ihm habe die Veranstaltung nicht gefallen: Bei
dem Thema dürfe man nicht lachen. Dies hörte eine jüdische Zeitzeugin, die
im Berliner Untergrund überlebt hatte, und verbesserte ihn: Nur wenn man
lacht, kann man verstehen, daß es auch damals nebeneinander und manchmal
sogar in einer Person Mensch und Unmensch gegeben hat, ja es die freie
Entscheidung eines Jeden war, ob er Mörder werden oder Mensch bleiben
wollte.
Der Film hat eine große Bedeutung für die jüdisch-christliche
Beziehungsgeschichte in Deutschland – und ich sage bewußt an dieser Stelle
nicht den dafür gebräuchlichen Terminus "deutsch-jüdische"
Beziehungsgeschichte, denn alle Untergetauchten und alle die sie versteckt
oder unterstützt haben, haben sich gleichermaßen als Deutsche gefühlt. Er
hat die Bedeutung, einer Generation von nach der Befreiung 1945 hier
geborenen oder aufgewachsenen Juden etwas mitzuteilen über das Leben und
Leiden von Juden, auch über Miteinader von Juden und Nichtjuden in diesem
Land – und natürlich, dem weitaus größeren Publikum von nichtjüdischen
Deutschen einen Eindruck davon zu vermitteln, wie es denn hier war. In einem
Satz: Nicht alle waren Mörder!
Mittwoch, 1. November 2006, 20.15 Uhr, ARD
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