Zum warten verdammt:
Luftballons ins Nichts
Flucht in Aktivitäten und Sturz in die
Abschottung - wie Angehörige der entführten israelischen Soldaten lernen,
mit der Ungewissheit zu leben
Von Thorsten Schmitz, Süddeutsche Zeitung v. 05.09.2006
Naharija, 4. September - Am Morgen des 12. Juli stand
Karnit Goldwasser in der Küche ihrer Wohnung in der Hafenstadt Haifa und
hackte Gemüse. Sie bereitete das Lieblingsgericht ihres Mannes Ehud zu. Das
Radio lief, sie summte vor sich hin. Fast einen Monat lang hatten die beiden
sich nicht gesehen. Ehud Goldwasser, der wie Karnit an der Universität Haifa
Umwelttechnik studiert, war im Reservedienst. Der 12. Juli war sein letzter
Tag in der Armee, zum Abendbrot sollte er nach Hause kommen.
Während Karnit Goldwasser in der Küche hantierte, wurde das reguläre
Radioprogramm unterbrochen. Der Armeerundfunk meldete einen Überfall auf
israelische Soldaten an der Grenze zum Libanon, dort, wo Ehud Goldwasser
seinen Dienst leistete. Karnit sandte ihrem Mann eine SMS. Als sie nach zwei
Stunden noch immer keine Antwort erhalten hatte, rief sie an. Doch niemand
nahm ab. Sie wurde unruhig. Am Mittag klopfte es an ihrer Tür. Vier Soldaten
eröffneten ihr, dass ihr Mann von der Hisbollah entführt worden oder tot
sei. Ungefähr zur selben Zeit sah Ehuds Vater Schlomo Goldwasser in einem
Hotel in Südafrika Nachrichten auf CNN, wo über die Entführung berichtet
wurde. Er rief seine Schwiegertochter an, es war, so erinnert sich der
pensionierte Frachtschiffskapitän, "kaum ein Wort aus ihr herauszubringen".
Die Eltern brachen sofort den Urlaub in Südafrika ab. Einen Tag später waren
alle vereint, auch im Schmerz über Ehuds Schicksal. Zwei Monate und einen
Libanonkrieg später gibt es von Ehud Goldwasser und dem mit ihm entführten
Eldad Regev noch immer kein Lebenszeichen. Auch über den Zustand Gilad
Schalits, der Ende Juni von Hamas-Terroristen in den Gaza-Streifen
verschleppt wurde, ist nichts bekannt.
Immer wieder mal heißt es, eine Freilassung stünde bevor, wie jetzt am
Wochenende. Israel, so berichteten arabische Zeitungen, sei zu einem
Gefangenenaustausch bereit. Doch das, so Schlomo Goldwasser, "sind alles nur
Spekulationen. Wir wissen nur eines mit Gewissheit: Dass wir nichts wissen."
Sein Sohn "war", sagt er in der Vergangenheitsform und korrigiert sich dann
selbst, "äh, ist eine starke Persönlichkeit. Er wird versuchen
durchzuhalten. Aber er ist nur eine Karte in einem größeren Spiel."
Zum Warten verdammt
Vergangene Woche trafen sich die Eltern und die Geschwister Gilad Schalits
im Süden Israels im Armeeposten Kerem Schalom, um den 20. Geburtstag Gilads
zu begehen. Traurige Lieder wurden gespielt, bunte und mit Helium gefüllte
Luftballons mit Gruß-Postkarten in den Himmel gesandt. Die Mutter von Gilad
weinte, Vater Noam versteckte seine Trauer hinter einer Sonnenbrille. "Die
Zeit arbeitet gegen uns", sagt er. Nach Wochen der Qual haben die Schalits
vor kurzem wieder ihre Pension in Mitzpe Hila in Galiläa eröffnet, auch "um
uns abzulenken", wie Noam Schalit berichtet. Bei Freunden und
Familienangehörigen der entführten Soldaten ist die Angst groß, dass ihre
verlorenen Söhne in Vergessenheit geraten. Auch fürchten sie das Martyrium
jahrzehntelanger Ungewissheit: Vor zwanzig Jahren wurde der israelische
Co-Pilot Ron Arad bei einem Flugzeugabsturz über dem Libanon von der
Hisbollah gefangen genommen - seitdem gab es Tausende Gerüchte, aber nie
Gewissheit über sein Schicksal.
Die Angehörigen sind verdammt zu warten. Um nicht in Agonie zu verfallen,
haben sie das Appellieren zu ihrer Hauptaufgabe gemacht. Allen voran Karnit
Goldwasser. An diesem Dienstag fliegt sie zum zweiten Mal innerhalb von nur
zwei Wochen in die USA, Politiker und Mitglieder jüdischer Vereinigungen
treffen, US-Medien Interviews geben, auf Kundgebungen sprechen, Spenden für
den zerschundenen Norden Israels sammeln. Sie sagt, der Krieg sei zwar
vorbei, "aber mein Krieg ist es, Ehud nach Hause zu holen". Ihre
Schwiegermutter Miki Goldwasser zieht es vor, in Naharija zu bleiben. Sie
sagt, sie wolle das Land nicht verlassen, solange ihr Sohn entführt sei. Vor
kurzem hat sie vor 60 000 Menschen auf dem Rabin-Platz in Tel Aviv
gesprochen. Das habe sie Überwindung gekostet, "aber die Anteilnahme hat
mich auch mit Zuversicht erfüllt". Um sich vor verfrühter Euphorie zu
schützen, sagt sie, lese sie kaum noch Zeitungen, auch Fernsehnachrichten
meide sie.
Auf der Solidaritätskundgebung in Tel Aviv vergangene Woche ergriff auch
Benny Regev das Mikrofon, der ältere Bruder des 26-jährigen Jurastudenten
Eldad. Vor ein paar Jahren war die Mutter einem Krebsleiden erlegen. Vater
Regev ist so getroffen von dem doppelten Schicksalsschlag, dass er seinen
Sohn mit den Medien reden lässt. Benny Regev kritisiert die Weigerung von
Regierungschef Ehud Olmert, Verhandlungen mit den Entführern zu führen:
"Ariel Scharon hat vor zwei Jahren schließlich auch mehr als 400 arabische
Gefangene freigelassen. Warum nicht jetzt?"
Am Mittwoch, dem 12. Juli, war die Armee stundenlang unsicher, ob Ehud
Goldwasser und Eldad Regev bei dem Angriff der Hisbollah getötet wurden.
"Wir hatten uns schon auf eine Beerdigung vorbereitet, als uns am Abend
gesagt wurde, er sei entführt worden", erzählt Karnit Goldwasser. Die
Annahme, dass ihr Mann lebt, hat Karnit Goldwasser nun ihrerseits mit Leben
erfüllt. Es habe sie zwar keiner auf ihre Rolle vorbereitet, sagt sie, aber
sie habe sehr schnell gelernt. Sie hat eine Pause beim Studium eingelegt und
ist seitdem entweder mit Politikern im Gespräch wie etwa UN-Generalsekretär
Kofi Annan, oder sie spricht auf Kundgebungen in London, Los Angeles oder
Chicago. Sie sitzt bei Larry King in der Talkshow oder liest einen ihrer
Briefe an den entführten Ehemann vor, denn jeden Abend schreibt sie ihm: "Er
wird mich fragen, was ich in der Zeit seiner Entführung gemacht habe", sagt
sie. Wenn sie von ihren Gefühlen redet, ist sie von einer unerschütterlichen
Gewissheit getragen: "Ich weiß, dass Ehud noch am Leben ist, denn wir reden
jeden Abend in Gedanken miteinander."
Mit freundlicher Genehmigung der
Süddeutsche Zeitung und der
DIZ München
GmbH
hagalil.com 06-09-2006 |