Truppenentsendung:
Wer hat Angst vor deutschen Soldaten?
Von Werner Sonne, Haaretz, 13.09.2006
OK, dann haben wir halt nicht gewonnen. Italien hat
gewonnen. Schade, aber Deutschland wurde bei der Fußball-WM immerhin
Dritter. Die Sache ist gelaufen. Jetzt kann man zu dringenderen Themen
übergehen, wie z.B. dem Krieg im Nahen Osten, der nur einige Tage nach dem
Endspiel ausbrach. Nur noch einen Moment, bitte. Deutschland hat nämlich
etwas anderes, sehr viel wichtigeres gewonnen: Wir haben unseren Platz in
der Welt zurück gewonnen, und das ist kein Pappenstiel. Er könnte uns noch
teuer zu stehen kommen, wie z.B. mit einer Aufgabe in der multinationalen
Truppe im Südlibanon.
Am letzten Tag der WM, am 9. Juli, interviewte ich Kofi
Annan für das Morgenmagazin der ARD, das ich in Berlin moderiere. Als
UN-Generalsekretär muss Annan natürlich höflich sein, und das war er auch:
"Das ist eine der besten WM aller Zeiten", sagte er. Das ist keine
Überraschung, dachte ich mir, bei all den Komplimenten, die Deutschland als
Gastgeber erhalten hatte. Die Organisation war beispielhaft (das konnte man
von Deutschen auch erwarten, oder?), fantastischer Fußball, fantastische
Stimmung und sogar fantastisches Wetter. Aber für die Deutschen beinhaltete
diese WM etwas sehr viel Wichtigeres.
In einer angenehmen Nacht vor dem Brandenburger Tor, dem
Wahrzeichen Deutschlands in der Welt, schauten sich Tausende Deutsche
gemeinsam das entscheidende Spiel gegen Italien an. Vor dem Anpfiff sangen
sie mit den Spielern die Nationalhymne, sie schwenkten schwarz-rot-goldene
Fähnchen. Aber nicht nur dort. Eine beispiellose Welle von Patriotismus
überschwemmte ganz Deutschland: Deutsche Fahnen waren überall zu sehen, an
Autos, Fenstern sogar in den Gesichtern der Menschen. Junge Deutsche füllten
die Straßen und brüllten aus vollem Halse "Deutschland, Deutschland".
Fahnen, die Hymne, Feuerwerk, Patriotismus? Big deal. Ist
das nicht normal in einem Land, in Frankreich, England, den USA? Nicht in
Deutschland.
Ich bin im Nachkriegsdeutschland aufgewachsen, Angehöriger
einer Generation, die 60 Jahre danach noch immer das Gefühl hatte, man dürfe
nicht sagen "Ich bin stolz, Deutscher zu sein." Patriotismus war tabu und
die Demonstration von Nationalstolz, wie das Schwenken von Fahnen, war eine
Schande. Zum ersten Mal war das jetzt anders. Jahrzehnte nach Kriegsende hat
es den Anschein, als hätten sich die Deutschen endlich ihr
Nationalbewusstsein zurückgeholt - durch den Fußball. Aber nicht alle nahmen
an diesem Fest teil. Die Linke war z.B. völlig verblüfft, nachdem sie
Jahrelang die Mantra wiederholt hatte, Deutschland müsse sich schämen, oder
zumindest für immer und ewig bescheiden zurückhalten. Wenn bisher Anzeichen
für eine Rückkehr des nationalen Selbstbewusstseins auftraten, wurde sofort
der "Auschwitz-Schlagstock" hervorgeholt, um den Deutschen einen Schlag zu
versetzen und sie zur Ordnung zu rufen.
Obwohl sich Deutschland friedlich wieder vereinigte,
obwohl es eine gut funktionierende Demokratie ist, ein beispielhaftes
Mitglied in der EU, ein standhafter Befürworter der UN und friedlich mit
seinen Nachbarn zusammenlebt, war seinen Bürgern der "Luxus" eines guten
Selbstbewusstseins einfach nicht erlaubt. Es scheint jedoch, als verschwinde
die Mantra allmählich. Der "Schlagstock" hat seine Aufgabe beendet. Die
deutsche Linke befindet sich im Moment in der Defensive, nachdem sie
wichtige Verbündete verloren hat. "Warum sollen die Deutschen nicht stolz
auf ihr Land sein?", fragte Charlotte Knobloch, die vor Kurzem zur
Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland gewählt wurde, die
letzte Holocaustüberlebende, die Mitglied in dieser Körperschaft ist. Noch
vor wenigen Jahren war es nicht vorstellbar, dass ein Mensch wie sie solche
Worte äußert.
Aber lasst uns zu Annan am letzten Tag der WM
zurückkehren. Ein netter Versuch, dachte ich mir, als er die Deutschen vor
den Kameras lobte. Aber lassen Sie mich das Folgende fragen: "Die Welt hatte
immer Angst vor deutschem Patriotismus. Ist diese Ära nun vorbei?" "Ja",
antwortete Annan ohne zu zögern. Und dann sprach er davon, wie gut diese WM
den Deutschen getan habe.
Aber ich bin kein Sportjournalist, sondern ein
politischer, der wissen will, wie die Welt das "neue Deutschland" und seinen
Ausbruch von Patriotismus sieht. Deshalb wiederholte ich die Frage: "Ist das
Zeitalter, in dem deutscher Patriotismus der Welt Sorgen bereitete,
tatsächlich vorbei?" "Ich glaube, es ist vorbei", antwortete Annan, "und
niemand betrachtet die Stimmung, die hier in Berlin zum Ausdruck kam, als
etwas, das auch nur im Geringsten mit der Geschichte zu tun hat." Gut und
schön, dachte ich mir. Lassen wir uns von Politik sprechen. Wenn das
Zeitalter vorüber ist, in dem Deutschland nur eine bescheidene
internationale Rolle ausübte, was bedeutet dies dann für den Rest der Welt?
Immerhin strebt Deutschland ja einen permanenten Sitz im UN-Sicherheitsrat
an. "Deutschland hat eine wichtige Rolle auszuüben", sagte Annan. "Der
Sicherheitsrat präsentiert die geopolitische Realität von 1945, und die UN
muss sich der neuen Situation anpassen." In anderen Worten, Annan
befürwortet den Traum Deutschlands, eine wichtigere Aufgabe im
Sicherheitsrat zu erhalten, wo, wie es sich immer wieder zeigt, die
internationale Politik geführt wird.
Wie hängen die WM, deutscher Patriotismus und eine
wichtigere weltweite Aufgabe für Deutschland zusammen? In unserer schnellen
Welt ging die WM erst vor zwei Monaten zu Ende, aber man hat das Gefühl, als
sei seither schon eine Ewigkeit vergangen. Damit die Welt sein neues Image
akzeptiert, braucht Deutschland einflussreiche Freunde, die sich nicht mehr
von dem Monster fürchten, das zwei Weltkriege eröffnet und sechs Millionen
Juden getötet hat.
Ein neuer, ziemlich unerwarteter Freund tauchte vor Kurzem
auf: das Land der Holocaustüberlebenden, Israel. "Es gibt keinen Staat, der
uns freundlicher behandelt als Deutschland", sagte der Ministerpräsident
Israels, Ehud Olmert, vor einigen Wochen in einem Interview. Er tat etwas,
das noch vor einigen Jahren unvorstellbar war: Er forderte deutsche Soldaten
auf, an die Nordgrenze Israels zu kommen und sich an der multinationalen
Truppe zu beteiligen. "Ich sagte zu Kanzlerin Merkel, dass wir überhaupt
kein Problem mit der Präsenz deutscher Soldaten im Südlibanon haben", sagte
Olmert. "Sie werden Teil einer Truppe sein, die Israel verteidigt, und ich
würde mich darüber sehr freuen."
Die Stunde der Wahrheit nähert sich schnell, für viele
deutsche Politiker zu schnell, denn sie stehen vor einer Wahl historischer
Ausmaße. Die Vergangenheit spielt bei ihren Befürchtungen eine wichtige
Rolle. Obwohl Olmert eine deutsche Truppe an der Grenze Israels begrüßt,
können sich einige deutsche Gesetzgeber die Präsenz deutscher Soldaten in
der Nähe des jüdischen Staates nicht vorstellen. Obwohl die offene Einladung
Olmerts ihre Argumente sehr geschwächt hat- wenn die Juden selbst hier kein
Problem erkennen, warum sollten wir das dann tun?
Jahrzehntelang gab es in Deutschland die Doktrin, dass
keine deutschen Truppen an Missionen außerhalb der NATO-Grenzen teilnehmen.
Das vereinte Deutschland musste auf dieses Prinzip verzichten und entsandte
8000 Soldaten an verschiedene Orte der Welt, von Afghanistan bis in den
Kongo.
Der plötzliche Krieg im Nahen Osten stellte die
Bereitschaft Deutschlands, sich in Krisengebieten zu engagieren, vor den
ultimativen Test. Kanzlerin Merkel beschloss zwar, keine Bodentruppen zu
entsenden, aber es zeichnet sich ab, dass 2000-3000 Marinesoldaten in den
Gewässern des Libanon stationiert werden, die dann bei der Umsetzung der
UN-Resolution 1701 mitwirken werden. Deutschland ist daran interessiert, die
Kommandantur über die multinationale Marinetruppe zu übernehmen, und es hat
den Anschein, als würde ihm dieser Wunsch erfüllt.
Der Konflikt im Nahen Osten ist das wichtigste Thema in
dem Kampf zwischen dem radikalen Islam und dem Westen. Ohne eine Lösung
dieses Konflikts werden sich auch in anderen Konflikten keine Fortschritte
einstellen, wie z.B. im Iran oder im Irak.
Deutschland erfreut sich des Vertrauens beider Seiten, und
Hilfe bei der Stabilisierung des Nahen Ostens ist ein klares deutsches
Interesse. Es wird nicht leicht sein, diese Logik der deutschen
Öffentlichkeit zu verkaufen, die der Entsendung immer größerer Truppen an
Orte jenseits des Meeres noch immer skeptisch gegenüber steht. Aber die
Dinge ändern sich schnell. Die deutschen Soldaten sollten noch zwei Wörter
lernen: "Schalom" und "Salam".
Medienspiegel der Deutschen Botschaft Tel Aviv
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