Zur Lage in Nahost:
Verlegenheiten und Optionen
Von Reiner Bernstein
Will man die gegenwärtige Lage im Nahen Osten in einem
Satz zusammenfassen, dann so: Nach dem Krieg in Libanon suchen alle Parteien
in der Region nach glaubwürdigen Rechtfertigungen, um ihre Schwächen,
Niederlagen und Enttäuschungen zu verdecken. Für die internationale Politik
lassen sich daraus neue Optionen ableiten.
Besonders der Aktionsradius Europas als Akteur im Nahen
Osten befindet sich im Aufwind. Gelingt es dem deutschen Außenminister,
Paris und London trotz der dort heraufziehenden Präsidentschaftswahlen und
nach der Rücktrittsankündigung Tony Blairs politisch einzubinden, wären
wesentliche Voraussetzungen erfüllt, einem politischen Vakuum in der Region
entgegenzuwirken und gleichzeitig die Rolle der Vereinten Nationen
aufzuwerten, nachdem die Ambitionen Washingtons als nahöstliche
Vermittlungsadresse geschwächt sind.
Obwohl die Bundesregierung die Entscheidung für ihre
Mitwirkung am Libanon-Auftrag des UN-Sicherheitsrates ständig verschieben
muss, ist es unvorstellbar, dass sie am Ende vor einer Entsendung deutscher
Mannschaften zurückschreckt – obwohl die Risiken schwer kalkulierbar sind.
Was ein robustes Mandat ausmacht, ist nach wie vor unklar. Sollten die
Aufgaben der UNIFIL-II-Einheiten allein auf mechanistischen
Formelkompromissen beruhen, wären die Soldaten bei Erfüllung ihrer Pflichten
der Gefahr eines Kampfeinsatzes ausgesetzt. Zwar haben Iran und Syrien die
Beachtung der Resolution 1701 zugesagt, aber wenn die libanesische Regierung
ihren Küstenstreifen mit eigenen Schiffen kontrollieren will, ohne dazu
technologisch und logistisch in der Lage zu sein, wird das israelische
Militär nicht davor zurückschrecken, mit Nachdruck einen Waffennachschub für
die Hisbollah zu unterbinden, und zwar unter Berufung auf ihr
"Selbstverteidigungsrecht".
Innenpolitisch wird sich Frank-Walter Steinmeier durch die
Anstöße seiner Partei für "ein politisches Gesamtkonzept in Nahost" nicht
fesseln lassen. Kurt Beck hat ihm zwar den Ruch einer "Nebenaußenpolitik"
nehmen wollen, aber das Papier bewegt sich mit der Zentralität der
"Sicherung des Existenzrechts Israels" in alten Bahnen. Aus welchen Gründen
auch immer und ungeachtet der Merkwürdigkeit dieser Formulierung will die
Skizze nicht zur Kenntnis nehmen, dass Israel kontinuierlich selbst dafür
sorgt und sein Generalstab allerlei Szenarien mit oder ohne Beteiligung der
USA über gezielte Militärschläge gegen Syrien nachdenkt sowie Pläne für die
Vernichtung der iranischen Nuklearanreicherungsanlagen entwickelt. Iran
stellt eine Bedrohung für Israel dar, weil es sein Nuklearmonopol zu
durchbrechen sucht. Da das Regime in Teheran jedoch gleichzeitig Gegner
eines arabisch-israelischen Ausgleichs ist, wird es darauf ankommen, das
gesamte Konfliktfeld von den destruktiven religiösen Ideologien zu befreien
und die politische Vernunft zu mobilisieren.
Bei ihrem informellen Treffen im finnischen Lappeenranta
am 2. und 3. September haben die EU-Außenminister beschlossen, der
Entschärfung und der Lösung des regionalen "Kernkonflikts" größeres
Augenmerk zu widmen. Nachdem alle Bundesregierungen regelmäßig als Bremser
von sich reden machten, ist die Verabredung für die deutsche Politik
besonders interessant. Denn sie bereitet ihr Einschwenken auf eine
Diplomatie des Gleichgewichts vor und schickt sich an, die Formel von den
normalen Beziehungen zu Israel auf besonderem historischem Hintergrund
weiterzuentwickeln. Schon taucht im öffentlichen Diskurs der Begriff
"Neutralität" auf.
Bislang begnügten sich Bonn und Berlin mit Ermahnungen an
die Adresse Jerusalems und mit dem Hinweis auf das Recht des
palästinensischen Volkes auf einen Nationalstaat. Im Gegensatz dazu ist
Steinmeier offenkundig gewillt, Ehud Olmerts Ankündigungen nicht tatenlos
hinzunehmen, von den Rückzugsplänen für Teile der Westbank abzurücken, den
Verhandlungen mit Machmud Abbas neue Hürden in den Weg zu legen und
Verbindungen zu Damaskus auf absehbare Zeit auszuschließen, weil damit
unweigerlich die Zukunft der Golanhöhen thematisiert würde.
Der Krieg in Libanon könnte mithin allseits reinigende
Kräfte freisetzen, denen sich die arabischen Anrainerstaaten und der Iran
nicht entziehen können. "Wir müssen das Erfordernis des lebensfähigen
Staates Palästina hervorheben und damit über die Grenzen sprechen", so
Javier Solana am vergangenen Freitag in Kopenhagen. Da bieten sich die
"Clinton-Parameter" vom Dezember 2000 an – ein Programm, das die
israelischen und palästinensischen Autoren der "Genfer Initiative" auf den
Feldern Zweistaatenlösung, jüdische Siedlungen, Jerusalem, palästinensische
Flüchtlinge und Sicherheitsvorkehrungen detailliert durchbuchstabiert haben.
Mit diesem Entwurf für einen Friedensvertrag sollen die gegensätzlichen
historisch-politischen Narrative versöhnt werden: das "unberührbare Problem"
der Strittigkeit von gegenseitiger nationaler Anerkennung und voller
Legitimität – weit über den israelisch-palästinensischen Konflikt hinaus.
Mit der von Israelis und Palästinensern
vorgelegten Genfer
Friedensinitiative wurde im Dezember 2003 ein Entwurf für eine
Vereinbarung im Sinne einer Zwei-Staaten-Lösung präsentiert. Der Münchner
Historiker Reiner Bernstein
vertritt die Initiative in Deutschland. Von
Reiner Bernstein ist zuletzt erschienen: "Von
Gaza nach Genf – Die Genfer Friedensinitiative von Israelis und
Palästinensern". Wochenschau Verlag, 2006. |