Spinoza komplett:
Ein Spaziergang durch die Überreste des jüdischen Den Haag
Von Michael Wuliger
Jungle World 36 v.
06.09.2006
Den Haags berühmtester jüdischer Bürger ist in
christlicher Erde bestattet. Im Garten der Nieuwe Kerk im Stadtzentrum ruht,
wie der einsame Grabstein auf lateinisch vermerkt, "Benedictus de Spinoza".
Benedictus, zu deutsch Segen, heißt auf Hebräisch Baruch. Doch als einen der
ihren betrachteten die niederländischen Juden den Philosophen nicht mehr,
seit er wegen angeblich gotteslästerlicher Schriften aus der Jüdischen
Gemeinde Amsterdams ausgestoßen worden war.
Spinoza musste seine Vaterstadt verlassen. Asyl fand er 1669 in Den Haag.
Dort, in der Paviljoensgracht 74, entstand sein religionsphilosophisches
Hauptwerk "Ethica". Eine Statue und eine Tafel erinnern an den 1677
verstorbenen berühmten Bewohner. Auch ein Restaurant Spinoza gibt es. Auf
der Speisekarte stehen Döner Kebab und Lahmacun.
Das einstige jüdische Viertel von Den Haag ist heute muslimisch und
asiatisch geprägt. Viele Straßenschilder sind zweisprachig, niederländisch
und chinesisch. Juden wohnen hier so gut wie keine mehr.
Zu Spinozas Zeiten war die Haager Gemeinde noch die größte des Landes.
Anders als in Amsterdam, wo sich vor allem portugiesische Sephardim
niedergelassen hatten, dominierten hier Aschkenasim. Verstärkung bekamen sie
im 19. Jahrhundert, als Juden aus Russland und Polen vor der zaristischen
Verfolgung flohen. Rund um die Wagenstraat in der Innenstadt entstand ein
regelrechtes Schtetl mit koscheren Läden, kleinen Handwerksbetrieben,
Jeschiwot und kleinen Bethäusern, "jiddisch Stibl" genannt.
Der düstere, verwinkelte Kiez wurde in den siebziger Jahren des vorigen
Jahrhunderts saniert, viele der alten Häuser abgerissen und durch moderne
Sozialbauten ersetzt. Wer sich eine Vorstellung davon machen will, wie es
vorher ausgesehen hat, muss die Straße gegenüber Spinozas Grab überqueren.
Im Atrium des großen postmodernen Stadthauses steht unter Glas eine
Miniaturnachbildung des einstigen Den Haager Judenviertels. Übrig geblieben
ist davon nur wenig. Zwei steinerne Lämmer am Erker des Hauses Wagenstraat
75 deuten darauf hin, dass hier früher eine koschere Metzgerei war. In der
Sint Jacobsstraat macht eine kleine Tafel auf eine einstige Mazzenfabrik
aufmerksam.
Nur die 1844 erbaute neoklassizistische Große Synagoge steht noch. Man
erkennt sie schon von weitem an den beiden Minaretten. Das ehemals jüdische
Gotteshaus ist heute die Mescidi Aksa-Moschee. Das Bad nebenan wurde zu
einer türkischen Teestube umfunktioniert, das rituelle Becken mit Beton
zugeschüttet.
Das war 1974. Die Haager Jüdische Gemeinde brauchte für ihre 2.000
Mitglieder die Synagoge nicht mehr. Vor der Shoah hatten am niederländischen
Regierungssitz 17.000 Juden gelebt. 14.000 von ihnen wurden von den
Deutschen in den Jahren 1942/43 deportiert. Wenige konnten rechtzeitig
fliehen oder untertauchen. Als erste niederländische Stadt war Den Haag
"judenrein". Am Rabbi Maarsenplein soll demnächst ein Monument in Form eines
großen Davidsterns die Ermordeten ehren. Einstweilen erinnert in der
Bezemstraat eine kleine Plakette an die Jüngsten unter ihnen: "Rachel weint
um ihre Kinder."
Deportiert und ermordet wurden auch die meisten Bewohner der "Van
Ostadewoningen" rund um die Jacob-Cats-Straat. Ende des 19. Jahrhunderts
hatte die "Joodse Woningbouwvereniging" nicht weit vom alten Judenviertel
eine neue Siedlung errichtet. Kleine einstöckige Häuschen mit Gemüsegärten
und – ein Luxus damals – fließendem Wasser sowie Kanalisation. Im alten
Judenviertel hatte es das nicht gegeben; Cholera-Epiemien waren die Folge
gewesen. Die Siedlung wurde im Stil eines holländischen Dorfs gebaut. Die
einzige Konzession an das Judentum waren in die Giebel eingemauerte
Davidsterne. Die mehrheitlich muslimischen Bewohner heute scheinen sie nicht
zu stören.
Das jüdische Leben hat sich mittlerweile in den Westen der Stadt verlagert,
wo Königin, Regierung und Parlament ihren Sitz haben und elegante
Bürgerhäuser sowie teure Geschäfte die Straßen prägen. Dort, in der
Princessegracht, steht die liberale Synagoge. 1726 erbaut, war das
lichtdurchflutete Barockgebäude ursprünglich das Bethaus der portugiesischen
Gemeinde. Aus Amsterdam waren sephardische Bankiersfamilien wie die de
Souzas Mitte des 17. Jahrhunderts an den Regierungssitz gezogen, als
Kreditgeber für das königliche Haus Oranien. Ihre Religion öffentlich
zelebrieren durften sie anfangs nicht – ein Schicksal, das die Juden im
reformierten Holland mit den Katholiken teilten. An einem Prachtboulevard,
nach dessen Vorbild Unter den Linden in Berlin entstand (das jedenfalls
behaupten die Haager), steht ein kleines Gebäude mit der Hausnummer 60. Es
war die versteckte Synagoge der Sephardim, bevor in Holland
Religionsfreiheit gewährt wurde. Die Straße heißt übrigens "Lange Voorhout".
Wer dabei an das Stückchen Haut denkt, das bei der Beschneidung entfernt
wird, liegt falsch. Das niederländische "Hout" heißt übersetzt nicht Haut,
sondern Holz.
Nicht nur Sephardim, auch zu Wohlstand gekommene Aschkenasim lebten im
wohlhabenden Westen. Im Warenhaus Gerzon mit seinem Jugendstildekor kauften
sie ein. Das jüdische Konfektionsgeschäft La Bonneterie war, wie ein Wappen
über dem Eingang stolz vermeldet, sogar königlicher Hoflieferant. Das
Kaufhaus bedient noch heute die bessere Haager Gesellschaft. Verschwunden
ist dagegen die Privatbank Edersteim am Plein. Das Gebäude beherbergt heute
ein hochpreisiges Restaurant. Die private Synagoge der Familie im Hof des
Gründerzeitgebäudes dient als Speisesaal für Festgesellschaften. Das Essen
dort soll ausgezeichnet sein, heißt es in Restaurantführern.
Michael Wuliger lebt in Berlin und ist
Feuilleton-Redakteur der Jüdischen Allgemeinen. Führungen durch das jüdische
Den Haag bietet www.citymondial.nl
an.
hagalil.com 10-09-2006 |