Der beste Freund:
Warum begrüßt man in Israel den Einsatz der Bundeswehr?
Von Moshe Zimmermann
Süddeutsche Zeitung v. 14.09.2006
Das Wort Schlussstrich darf nicht ins deutsch-hebräische
Wörterbuch, doch den politischen Schlussstrich hat Israel stillschweigend
gezogen. Wenn der israelische Ministerpräsident Ehud Olmert - der in
Menachem Begins Herut-Partei großgeworden ist, der Partei der totalen
Ablehnung der Bundesrepublik, weil Erbin des Dritten Reichs - die
Bundesrepublik nicht nur als Alliierte bezeichnet, sondern sie sogar
auffordert, Soldaten an die Grenzen Israels zu schicken, ist der
Schlussstrich nicht nur signalisiert, er ist - auch beim Fortbestehen der
altbekannten Shoah-Rhetorik - vollbracht.
Olmert weiß, dass er mit dieser Geste innenpolitisch kein Risiko mehr
eingeht. Wer vom amerikanischen Präsidenten umarmt wird, wie im Juli
Bundeskanzlerin Merkel, wer Israels Angriff auf den Libanon bedingungslos
rechtfertigt, der kann nur Israels bester Freund sein. So denkt nicht nur
Israels Regierungschef. Nur noch ein Sechstel der jüdischen Israelis, so
eine Umfrage, halten Deutschland für Israel-unfreundlich. Etwa Dreiviertel
der Israelis, die einen Ausweg aus dem letzten libanesischen Schlamassel
suchten, begrüßten die Stationierung einer UN-Truppe im und um Libanon
herum. Mehr als 80 Prozent dieser Mehrheit befürwortet die Beteiligung der
deutschen Bundeswehr an der internationalen Truppe. Während in Deutschland
der Schatten der NS-Vergangenheit auf den Umfragen zu diesem Thema lastete,
war in Israel Ähnliches nicht zu spüren - und nicht nur, weil dort der
Mythos von der "sauberen Wehrmacht" noch nicht in Frage gestellt wird.
Übrigens löst sogar die Zugehörigkeit zur Waffen-SS in Israel keinen Alarm
mehr aus. Anti-Grass-Demonstrationen gab es keine, und die hebräische
Übersetzung der Grass-Autobiographie wird sich mindestens so gut verkaufen
wie zuvor der "Krebsgang".
Etwas nicht in Ordnung
Dass Israels Umgang mit Deutschland schizophren wirkt, war seit langem
festzustellen - eine realpolitische, freundliche Attitüde gegenüber der
Bundesrepublik einerseits und ein Heraufbeschwören der NS-Vergangenheit bei
jeder scheinbar passenden Gelegenheit andererseits. Neu ist aber das
Zurückdrängen der NS-Assoziationen, wenn es um deutsche Politik geht. Dabei
geht es nicht nur um die Akzentuierung der Gegenwartsbezogenheit auf Kosten
des Primats der Vergangenheit, sondern auch um einen - beim Stand der
Forschung überraschenden - Rückgang an Verständnis für das, was Nazismus
eigentlich war und ist. Darin, dass in Israel Nationalsozialismus grob mit
Auschwitz gleichgesetzt wird, liegt das große Problem. Das, was nach
Auschwitz führte, wird nicht thematisiert und problematisiert, vielleicht
weil so die israelische Gesellschaft klare Warnzeichen ignorieren kann, die
ein historischer Vergleich hervorrufen könnte.
Ein Beispiel für diese Tendenz lieferte die Zeitung Haaretz, die einen
Anteil von 25 Prozent an den deutschen Verleger Neven DuMont verkauft hat.
Dass ein israelischer Unternehmer mit Deutschland Geschäfte macht, ist gang
und gäbe, aber dass eine respektable Zeitung mit einem Unternehmen paktiert,
das nach alldem, was bekannt ist, indirekt von der Arisierung profitierte,
mit dem NSRegime gute Geschäfte machte und von Goebbels'
Propagandaministerium sogar ein Verdienstkreuz erhielt, wäre in nicht allzu
ferner Vergangenheit für die israelische Öffentlichkeit noch eine
Provokation gewesen. Jetzt nicht mehr.
Die Zeitung schickte einen als Moralapostel geltenden Korrespondenten zum
Interview mit dem heutigen Besitzer des rheinländischen Unternehmens,
Jahrgang 1927 (!), der mit seinen verharmlosenden Statements zur
"Vergangenheitsbewältigung" erstaunlicherweise weder beim Interviewer noch
bei den Lesern Bestürzung hervorrief (und nicht nur, weil die Transaktion
während des Libanonkriegs stattfand): Schuldgefühle hat er als Deutscher
nicht. Als er eine Frau sah, die einen gelben Stern trug, wusste er (er muss
mindestens 14 Jahre alt gewesen sein), dass etwas "nicht in Ordnung ist".
"Schuldig machten sich nur diejenigen, die aktiv für die Partei und für die
Shoah agierten", also auch nicht sein Parteigenosse Vater, oder "Ich war
beim Jungvolk und konnte weder den Geruch noch die Menschenmenge leiden . .
. aus dem selben Grund ging ich auch nicht zur WM." Nur ein Leserbrief
verwies bestürzt auf die Meinung des neuen Haaretz-Partners, Madagaskar wäre
für die Gründung des jüdischen Staats besser geeignet gewesen als Palästina
- eine Präferenz, die aus der NS-Vergangenheit stammt. Und die
Anwaltskanzlei der Zeitung, die sich unlängst rühmte, vor lauter Ehrfurcht
vor den Opfern der Shoah nicht mal im Besitz eines in Deutschland
hergestellten Bleistifts zu sein, hat nun keine Schwierigkeiten mehr, aus
einer Kasse bezahlt zu werden, die aus dieser deutschen Quelle gespeist
wird.
Auf der Skala der israelischen NS-Empfindlichkeiten hat sich also manches
geändert. Schon die Fußballweltmeisterschaft war ein Hinweis darauf, dass
der anti-deutsche Automatismus nicht wie früher funktioniert. 60 Prozent
hielten die WM in Deutschland für eine WM "wie in jedem anderen Land",
während nur 22 Prozent dabei wegen der NS- Vergangenheit ein unwohles Gefühl
hatten. In den letzten Jahren stieg der Anteil der jüdischen Israelis, die
die Beziehung zu Deutschland für normal halten, von etwa 60 Prozent auf
beinahe 80. Wäre das ein Indiz für tiefere Einsichten in die Geschichte wie
auch in die Gegenwart oder einfach die Folge von mehr historischen
Kenntnissen, wäre dies sogar zu begrüßen. Wie aber das Beispiel Haaretz
zeigt, hat es eher mit einer merkwürdigen Abstumpfung zu tun und noch mehr
mit einer Reorganisation der Skala der Israelfeinde: Der Islam, die Araber
(auch in Europa) rangieren ganz oben auf der Liste der Gefahren für Israel
und für die Juden, so dass Deutschland nicht mehr als automatischer
Aufhänger für die Vorstellung vom ewigen Antisemitismus gebraucht wird.
Etwas überzogen könnte man behaupten, dass die Freundschaft Hitlers zum
Großmufti von Jerusalem, Hadsch Amin, bald Hauptziel der retrospektiven
historischen Kritik sein wird statt umgekehrt.
Dass Israels Werteskala in Bezug auf die Vergangenheit und ihre "Verwendung"
in Bewegung geraten ist, merkt man im hochempfindlichen Polen. Nicht nur der
polnische Präsident Kazcynski, der diese Woche nach Israel zu Besuch kam,
sondern auch viele Polen, die jährlich den "Marsch der Lebenden" verfolgen,
haben den Eindruck, dass Israelis Auschwitz eher für ein polnisches als ein
deutsches Kainsmal halten. Wohin diese Vorstellung führt oder worauf sie
beruht, demonstriert ein von der Friedrich-Ebert-Stiftung angeregtes
pädagogisches Projekt, in dem für Polen, Deutsche und Israelis ein
gemeinsamer Unterrichtsplan zum Thema "kollektives Gedächtnis und kollektive
Identität" vorbereitet wird, mit Hinweisen auf Sub-Themen wie Minderheiten
oder Vorurteile. Bei den polnischen Teilnehmern kam spürbar der Verdacht
auf, Israelis und Deutsche hätten bereits eine Art historiographische
Einheitsfront geschaffen, ein gemeinsames Narrativ entwickelt, das sich dem
polnischen Narrativ widersetzt.
So absurd das auch klingen mag, unbegründet ist der Verdacht der rückwärts
gewandten deutsch-israelischen Annäherung nicht, was wiederum auf
israelischer Seite zu einer gewissen Lethargie führt. Die rechtsextremen
Vorfälle im Wahlkampf in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern wie auch die
Aussicht auf die Überschreitung der Fünf-Prozent-Hürde durch die NPD im
mecklenburgischen Landtag werden von Israels Öffentlichkeit heute, anders
als vor 15 Jahren, kaum wahrgenommen. Solange nicht Ahmadinedschad oder
Scheich Nasrallah in diesen Landtag einziehen, scheint die deutsche Welt für
die israelischen Zeitungsleser wenig interessant zu sein.
Der Autor lehrt Deutsche Geschichte an der Hebräischen Universität in
Jerusalem. Er lebt in Tel Aviv.
Mit freundlicher Genehmigung der
Süddeutsche Zeitung und der
DIZ München
GmbH
hagalil.com 18-09-2006 |