Gazastreifen:
Die Besatzung ist schuld, oder nicht?
Bericht von Avi Issacharoff, Ha'aretz,
13.09.2006
Übersetzung Daniela Marcus
Gazastreifen – In der Stadt Beit
Hanun im nördlichen Gazastreifen sind immer noch Zeichen der letzten
Operation der israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) in dieser
Gegend zu sehen. "Freigelegtes" Agrarland, die bombardierte Brücke,
die in die Stadt führt, und beschädigte Häuser. Ein israelischer
Besucher untersucht erstaunt die Einschusslöcher in den Fenstern.
"Warum haben die Soldaten auf Sie geschossen?" fragt er schockiert.
Der Hausbesitzer lächelt verlegen. "Es waren nicht die Juden. Es war
die Familie Kafarana, die während des Clankrieges auf uns schoss",
erklärt er.
Militärische Operationen im Gazastreifen liefern vielen Israelis und
Palästinensern die optimale Erklärung für die Verschlechterung der
Situation im Gazastreifen: die Besatzung ist schuld. Besuche im
Gazastreifen und öffentliche Stellungnahmen von Palästinensern wie
z. B. dem Sprecher der Hamasregierung, Ghazi Hamad, der kürzlich
einen Artikel veröffentlichte, in dem er die Palästinenser dazu
aufrief, ihre Fehler zuzugeben, zeigen jedoch eine kompliziertere
Lage.
Viele Palästinenser wagen es zuzugeben, dass die wirtschaftliche und
soziale Verschlechterung im Gazastreifen nicht nur an den
israelischen Aktionen liegt. Der Zerfall der palästinensischen
Gesellschaft und Institutionen hat auch eine bedeutende Rolle
gespielt. Die Gesellschaft im Gazastreifen kehrt zu einer Ära
zurück, in der die Regierung, die von Premierminister Ismail Haniyeh
oder dem Vorsitzenden der palästinensischen Autonomiebehörde (PA)
Mahmoud Abbas (Abu Mazen), angeführt wird, keine Probleme löst. Die
Scheichs und Muchtars sind die wichtigen Vermittler.
Die schlechte, beinahe schockierende wirtschaftliche Lage im
Gazastreifen wurde nicht nur durch die israelische und
internationale Belagerungswirtschaft hervorgerufen. Wie es aussieht,
ist Geld vorhanden – allerdings nur für Hamasmitglieder. Ein gutes
Beispiel dafür ist das große Budget für Schulen im Gazastreifen, die
von der Hamas geführt werden. Für Bürger des Gazastreifens kann die
Hamasmitgliedschaft wirtschaftliche Not lindern. Die Organisation
schafft es, Menschen zu helfen und ihnen finanzielle Unterstützung
zukommen zu lassen während Fatahmitglieder dem Bankrott nahe sind.
So fand eine partielle ökonomische Revolution statt: Diejenigen, die
Lohn erhalten und den Monat damit auskommen können, sind
Hamasunterstützer, die traditionell aus dem schwächeren Teil der
Bevölkerung stammen. Die neuen Armen sind Fatahmitglieder.
Die Straßen von Beit Hanun sind relativ sauber. Im Gegensatz zu
Gaza-Stadt befinden sich die städtischen Angestellten hier nicht im
Streik und die Müllabfuhr findet wie gewöhnlich statt. Auch in Khan
Yunis, Rafah und anderen Städten gab es keine Streiks. Doch in
Gazastadt stinkt es. Und die Menschen geben Israel dafür die Schuld.
Israel hat Gelder an die PA zurückgehalten (und somit den Lohn für
die städtischen Angestellten). Der Bürgermeister von Gaza-Stadt,
Majed Abu Ramadan, wird mit der Fatah identifiziert, und deshalb
erhält die Stadt im Vergleich zu Hamas-kontrollierten Gemeinden im
Gazastreifen nur ein eingeschränktes Budget. Deshalb hatten es die
städtischen Angestellten in Gaza-Stadt eilig zu streiken, während
Stadtreinigungsarbeiter in anderen Städten mit der Arbeit
fortfuhren. Mitte der Woche endeten auch die Streiks in Gaza-Stadt.
Jedoch nicht, weil die Löhne bezahlt worden waren, sondern weil
hinter der Bühne ein Abkommen zwischen der Kommune Gaza-Stadt und
dem Ministerium für Stadtverwaltung, das von der Hamas kontrolliert
wird, geschlossen wurde.
Ein Kilo Sa'atar für 100 Schekel (ca. 18 €)
Die aussichtslose wirtschaftliche Lage in Gaza-Stadt und in anderen
Städten ist eher bei Fatahmitgliedern sichtbar. Nach den Worten von
Fatahmitgliedern erhält die Einsatztruppe der Hamas, die Tausende
von Soldaten zählt, die beste Ausrüstung, regelmäßige Lebensmittel-
und Getränkelieferungen und monatlich beträchtliche finanzielle
Zuteilungen. Diese Tatsache hat den Ärger von Mitgliedern anderer
Sicherheitsdienste hervorgerufen, denn diese haben seit beinahe
sechs Monaten keinen Lohn mehr erhalten.
Am Dienstag demonstrierten sie auf den Straßen von Gaza-Stadt.
Tausende wurden von einem Motorrad angeführt, auf dem zwei
bewaffnete Männer mit dem gelben Fatahband um den Kopf saßen. Die
Demonstranten feuerten in die Luft und sangen laut: "Weg mit dir,
Haniyeh, ein Kilo Sa’atar kostet 100 Schekel." Dieser Ausruf bezog
sich auf eine berühmte Äußerung Haniyehs bei Übernahme des
Premierministeramtes. Damals sagte er: "Wenn die Belagerung
weitergeht, werden wir Sa’atar und Salz essen."
Arafat al-Arini, Teilnehmer der Demonstration und Offizier bei der
präventiven Sicherheitstruppe, erklärte: "Die Haniyeh-Regierung muss
die Verantwortung übernehmen. Die Regierung liefert keine politische
Hoffnung, sie führt keine Verhandlungen, mit niemandem in der Welt,
sie macht Fehler bei der Behandlung der Sicherheitsdienste."
Mittlerweile wurden die Rufe noch feindlicher: "Weg mit dir,
Haniyeh, die Regierung braucht richtige Männer."
Arini sagte, die Hamas habe verursacht, dass die internationale
Gemeinschaft kein Interesse mehr am palästinensischen Thema habe.
"Sie akzeptieren nicht einmal die arabische Initiative", sagte er.
Ein Eiskremwagen, der entlang des Demonstrationszuges fuhr, schaffte
es nicht, die Gemüter abzukühlen. Und als die Protestierenden am
Parlamentsgebäude ankamen, ließen sie ihren Ärger an dem
Eiskremwagen aus.
Nach Schalits Freilassung
"Die Hamas sollte den Moment fürchten, da Schalit frei gelassen
wird", sagte ein Offizier von einem der Sicherheitsdienste. "Erst
dann werden ihre wahren Probleme beginnen. Jeder wird einen
Wendepunkt erwarten. Doch ohne eine Änderung der Politik dieser
Organisation wird Israel die Belagerung nicht aufheben und die
Regierung wird zerbrechen. Die ökonomische Situation und die
Sicherheitslage werden nur schlimmer und somit auch die Korruption.
Während der Ära der Fatah-Herrschaft entschied ein spezielles
Komitee über die Ernennung für Regierungsministerien. Nun wurden
11.000 Beamte ohne irgendein Komitee ernannt – und zwar nur
diejenigen, die nah an der Quelle sitzen wie Verwandte, Freunde und
Nachbarn von Ministern.
Unter anderem haben Hamasminister 67 neue Direktoren und
stellvertretende Direktoren für die Regierungsministerien ernannt
und weitere 300 Assistenten und Berater. "Sie schmuggeln Millionen
über die Übergänge und zahlen ihren Leuten Lohn. Sie haben 20jährige
als stellvertretende Direktoren ernannt. Es gibt großen Ärger unter
den Bürgern von Gaza-Stadt, nicht nur über die Besatzung sondern
auch über die Regierung, die den Gazastreifen zerstört hat", sagte
ein Offizier.
Der gleiche Offizier war der Meinung, dass eine palästinensische
Einheitsregierung der Fatah nicht dienen sondern die Hamas retten
wird. "Sie wollen eine Einheitsregierung weil es für sie die letzte
Möglichkeit ist, an der Macht zu bleiben. Deshalb darf die Fatah
solch einer Regierung nicht beitreten."
Eigentlich ist Abbas derjenige, der sich für diese Idee einer
nationalen Einheitsregierung begeistert und der versucht, die Hamas
zu überzeugen, dieser Idee zuzustimmen. "Er ist nicht daran
interessiert, die Hamas zu retten", erklärt ein palästinensischer
Kommentator in Gaza-Stadt. "Obwohl Haniyeh etwas schwächer geworden
ist und seine Organisation für viele negative Phänomene
verantwortlich ist, weiß Abu Mazen, dass es derzeit keinen Ersatz
für die Hamasregierung gibt abgesehen von der Tatsache, die PA
aufzulösen. Selbst wenn die Regierung zurücktritt und es Neuwahlen
gibt, ist die Fatah so in sich zerstritten und schwach, dass sie die
Wahlen wieder verlieren wird."
Ramadan-Feierlichkeiten
Letzten Dienstag kamen 3.000 neue Besucher in den Gazastreifen.
Hierbei handelte es sich um Kälber, die für den Ramadan aus
Australien importiert worden waren. Einige tausend mehr sind derzeit
auf dem Weg in den Gazastreifen, gemeinsam mit Dutzenden Tonnen an
Heu als Futter für die Kälber. Die Operation wird von der
Koordinations- und Verbindungsverwaltungsstelle der IDF geleitet,
die am Eingang zum Gazastreifen sitzt.
Ihr Leiter, Oberst Nir Peres, hat einen der am wenigsten
beneidenswerten Jobs in der Armee. Er muss zwischen entgegen
gesetzten Interessen manövrieren: den Nöten der palästinensischen
Bevölkerung auf der einen Seite und den Sicherheitsanforderungen der
IDF und des israelischen Inlandgeheimdienstes Shin Bet auf der
anderen Seite. Wenn die Handelsübergänge geschlossen sind, beklagen
sich die Palästinenser und die Menschenrechtsorganisationen. Wenn
die Übergänge offen sind, klagen die Sicherheitsbeamten über
Gefahren.
"Zu Beginn des Monats April öffneten wir den Karni-Übergang für
Exporte. Einige Tage später explodierte ein mit Sprengstoff
versehenes Auto, mit dem ein Anschlag ausgeführt werden sollte, auf
der palästinensischen Seite. Vor ein paar Tagen entdeckten wir einen
weiteren Tunnel und erst diese Woche begannen wir wieder mit den
Exporten. Keine der Menschenrechtsorganisationen, die klagend zu uns
kommen, fragt, warum die Terrororganisationen das tun", erklärt er.
Peres, der bei der Marine ist, sieht aus, als ob er sich noch immer
nicht an diesen Job, der die Fähigkeit eines Politikers verlangt,
gewöhnt hat. Vor einer Woche kam am Schabbat eine israelische
Delegation der Organisation "Physicians for Human Rights" (Ärzte für
Menschenrechte), um Gaza-Stadt zu besuchen. Sie kehrten zurück mit
ernsthaften Klagen über die israelische Politik, die die Kranken
daran hindert, in Israel behandelt zu werden und die es schwer
macht, medizinische Ausrüstung in den Gazastreifen zu
transportieren.
"Die Klagen sind einfach nicht wahr", sagt er. "Während der
vergangenen Monate gab es 800 Zutritte nach Israel durch Kranke und
deren Begleiter. Und es wurde keine medizinische Ausrüstung zurück
gehalten. Doch natürlich wird ein israelischer Arzt, der das Niveau
von Tel Aviver Krankenhäusern gewohnt ist, in den Gazastreifen
kommen und sagen, die Bedingungen dort sind schrecklich."
In ihren Aussagen gegenüber den Medien erwähnten Vertreter der
israelischen Organisation, die sich mit dem palästinensischen
Gesundheitsminister Bassam Naim getroffen hatten, nicht die
anfängliche Politik der Hamasregierung, die darin bestand, den
Kranken die Ausreise nach Israel wegen "finanzieller Probleme" nicht
zu erlauben. Wunderbarerweise fand der palästinensische
Gesundheitsminister jedoch Geld, um die Behandlung einiger
einflussreicher Personen in Israel bezahlen zu können. Der Vater
eines der Kinder, dessen Behandlung in Israel Naim zunächst
abgelehnt hatte, sagte zu dieser Zeit, wenn die Hamas 1.000 Soldaten
weniger für die "Einsatztruppe" einberufen und das Geld stattdessen
für das Gesundheitsministerium verwenden würde, gäbe es kein
Problem, die Behandlung seines Sohnes in Israel zu bezahlen.
Doch wie schon gesagt: die Besatzung ist schuld.
hagalil.com 14-09-2006 |