Köpfe rollen lassen:
Israelis lehnen sich gegen ihre Regierung auf
Von Ulrich W. Sahm, Jerusalem
"Wir marschierten eine ganze Nacht, um die Toten aus dem Libanon
rauszuholen, ohne Wasser und ohne Nahrungsmittel", erzählt Roni Faigenboim.
"Uns wurde gesagt, dass es für die Piloten zu gefährlich sei, Wasser
abzuwerfen. Und haben wir uns etwa nicht gefährdet?" Den zum Kriegsdienst
eingezogenen Reservisten wurde schwarz vor Augen, als sie sich für den
Einsatz im Libanon einkleideten. "Es fehlte an
Allem: Schusssichere Jacken, Nachtsichtgeräte, Wasserflaschen und sogar
Waffen", erzählt ein Reservist. "Ich habe mir noch privat in der Apotheke
ein wenig Verbandsstoff besorgt", meinte ein Sanitäter der gleichen Brigade.
"Zum Glück gab es einige Spender, die uns das nötigste Gerät
bereitstellten", lächelte ein Reservist in Metullah, am "Tor zu Libanon" und
zeigte stolz sein modisches Rüstzeug mit vielen Taschen und Strapsen. Es
wirkte recht praktisch, sah aber ziemlich unmilitärisch aus.
Erst hatte sich der Reserveoffizier David Hartschlag mit einer israelischen
Flagge zum Protestmarsch nach Jerusalem aufgemacht. Dann gesellten sich die
frisch aus dem Kriegsdienst entlassenen Kämpfer der Alexandroni-Brigade,
dann der Brigade Speerspitze und schließlich auch Eltern gefallener
Soldaten. Ein Veteran vom Befreiungskrieg von 1948, David Doron, erinnert
sich: "Damals sind meine Freunde auf dem Schlachtfeld verblutet, weil sie
vergessen hatten, Sanitäter zu schicken."
Das Durcheinander, die schlechte Vorbereitung in den Lagerhallen für den
Notfall und schließlich ein komplettes Chaos während des Kampfeinsatzes,
ließen den Protestmarsch zur Knesset in Jerusalem auf mehrere Tausend
Menschen anschwellen. "Niemand wusste wirklich, wo und wie wir kämpfen
sollten. Alle paar Minuten änderten sich die Befehle", erinnert sich ein
Reservist. "Würden wir wieder gerufen, wäre ich der erste, der an die Front
zieht, denn dies ist mein Land und ich verteidige meine Freunde, meine
Familie", versichert der junge Mann mit dem langen zum Pferdeschwanz
zusammen gebundenen Haar.
Die Ziele der Demonstration sind widersprüchlich. Einige wollen nur dafür
sorgen, dass die Armee sich besser vorbereitet, aus ihren Fehlern lernt und
nicht wieder die Reservisten wegen mangelnder Ausrüstung in den Tod rennen
lässt: "Wir hatten nur ein einziges Funkgerät für dreißig Mann. Wenn wir uns
aus taktischen Gründen aufgeteilt hätten, wäre jeder Kontakt mit der Hälfte
des Trupps abgebrochen."
"Wir haben eine starke, mutige und ausgeklügelte Armee. Aber irgendwer hat
diesmal nicht gewusst, die Kraft dieser Armee richtig einzusetzen",
kritisiert ein anderer Reservist und plädiert "Köpfe rollen zu lassen". Ein
High-Tech-Ingenieur im Zivilleben, Joram, der bei der Infanterie dient,
fordert eine staatliche Untersuchungskommission "damit die Verantwortlichen
den Preis zahlen, wie das bei jedem Konzern ist, wo die Manager gescheitert
sind". Ahihud von der gleichen Kämpfereinheit widerspricht: "Eine staatliche
Untersuchung bedeutet doch nur, dass die verantwortlichen Politiker und
Militärs mit Anwälten versuchen, ihre Haut zu retten, anstatt Lehren aus den
Fehlern zu ziehen und umgehend die Mängel beheben, damit wir für die nächste
Runde besser vorbereitet sind." Ahihud plädiert deshalb für eine interne
Untersuchung der Militärs. Die gibt es sogar schon, hat aber am Dienstag
wieder ihre Arbeit niedergelegt, als Abgeordnete mit der Idee einer
parlamentarischen Untersuchung kamen und einige Minister auf einer
staatlichen Kommission bestehen, wie nach dem Yom Kippur Krieg oder nach dem
Massaker von Sabra und Schatillah.
"1973 dauerte es drei Jahre, bis Golda gestürzt war. Diesmal werden wir
nicht so lange warten" meinte ein Offizier. Am Pranger stehen
Premierminister Ehud Olmert, Verteidigungsminister Amir Peretz und
Generalstabschef Dan Halutz. Mit ein Grund für die schlechte Vorbereitung
der Armee liege an ständigen Kürzungen des Militärhaushalts aber auch an den
vordringlichsten Aufgaben der Armee in den letzten fünf Jahren, so der
Militärexperte Zeev Schiff. "Die Soldaten haben Palästinenser an
Straßensperren überprüft und Polizeiaktionen im Westjordanland gemacht,
anstatt für einen richtigen Krieg zu trainieren."
Nicht nur vor der Knesset, sondern auch im Parlament wird Unmut laut.
Nachdem Olmert und Peretz bei den Umfragen seit dem Waffenstillstand
jegliche Gunst der Wähler verloren haben, bilden sich in der Kadima- und der
Arbeitspartei schon Koalitionen, um die gescheiterten Spitzenpolitiker
umgehend zu ersetzen. Dennoch werden Neuwahlen im Augenblick ausgeschlossen,
zumal keine charismatische Führungsperson in Sicht ist, Olmert oder Peretz
zu ersetzen. Außerdem glaubt keine Partei, durch Neuwahlen jetzt
dazugewinnen zu können. |