"Feigheit vor dem Feind":
Unterwegs im Norden Von Ulrich
W. Sahm, Jerusalem "Es ist ganz schön
demoralisierend, wenn die Raketen über den Kopf zischen und dann irgendwo
einschlagen", sagt Amos Schliack. Im Mietwagen fährt der Fotograf durch den
Norden Israels, auf der Jagd nach Motiven. "Ich war in Haifa, wo eine Rakete
eingeschlagen ist. Ich habe einen Baum fotografiert. Der war von den
Metallkugeln in den Sprengköpfen durchsiebt geworden. Wenn man das gesehen
hat, kriegt man gewaltigen Respekt vor den Raketen der Hisbollah", erzählt
er.
"Ruf mich doch bitte an, falls Du etwas hörst", bittet er, denn das Radio
will er nicht einschalten. Im Falle eines Raketenalarms könnte er auch ohne
Hebräischkenntnisse die Liste der verlesenen Ortsnamen identifizieren, wenn
die Menschen aufgefordert sind, innerhalb einer Minute die Sicherheitsräume
aufzusuchen. "Wenn ich dem Radio lausche, kann ich die Fenster nicht offen
lassen und die Sirenen nicht hören." Am Mittag fährt er nach Kirjat Schmone.
Vor seinen Augen und hörbar schlägt eine Salve von zwanzig Raketen in und um
die Stadt ein. Das israelische Fernsehen meldet einen Toten, wenig später
einen weiteren. "Das war mir dann doch zu gefährlich. Ich drehte um und fuhr
nach Saffed. Das nennt man wohl Feigheit vor dem Feind, oder?"
Saffed, hoch in den Bergen gelegen, einst umgeben von grünen Wäldern, so
weit das Auge reicht, thront jetzt über stinkenden schwarz verrußten
Flecken. Tausende Hektar Wald und Grünflächen verbrennen unkontrolliert,
weil die Feuerwehr nicht in die unzugänglichen Gegenden vordringen kann. Die
meisten der rund 5000 von der Hisbollah abgeschossenen Katjuscharaketen
verfehlen die israelischen Wohnviertel und explodieren in der offenen
Landschaft. 2300 eingeschlagene Raketen haben die Feuerwerker gefunden, aber
doppelt so viele, in Wäldern und Feldern liegen unentdeckt in Erdlöchern,
darunter auch lebensgefährliche Blindgänger. Piloten von Chiem-Air
absolvierten seit Kriegsbeginn über 500 Flugstunden. "Sie sind länger in der
Luft als am Boden", lobt ein Sprecher den Einsatz rund um die Uhr. Anstelle
von Dünger und Insektenmittel verstreuen sie mit ihren wendigen gelben
Flugzeugen eine rote brandhemmende Chemikalie über den geschwärzten Wäldern.
In Hauptstadt der Kabbalah hätte heute selbst die Sängerin Madonna kaum
Freude. Die meisten Bewohner sind weg. Die Kunstgalerien sind geschlossen.
Schliack sucht in der Geisterstadt nach Passanten, um den Weg zum
Sieff-Hospital zu erkunden. Gerade landet ein Militärhubschrauber und bringt
verwundete Soldaten aus Libanon. "Das Gelände war abgeschirmt. Da durfte ich
nicht hin." Das Krankenhaus erhielt schon einen Katjuscha-Volltreffer.
"Eigentümlicherweise gibt es eine deutliche Häufung von Raketeneinschlägen
rund um Hospitäler", heißt es in einem israelischen Internet-Blog.
Verschwörungstheorie oder Wirklichkeit? Der Militärsprecher verweigert
Auskunft und die Zensur gibt Angaben zu getroffenen Zielen nicht frei. Am
Hospital von Saffed fotografierte Schliack das Loch, durch das eine Rakete
den ersten Stock traf. "Die Entbindungsabteilung wurde vom vierten Stock ins
Innere des ersten Stocks verlegt", sagt Schliack.
Sarah Friedmann, 58, und ihre Tochter Moriah, 28, sind vor einigen Tagen aus
Arad im Süden Israels nach Saffed gekommen. "Wir hatten ein inneres
Bedürfnis, den bedrohten Menschen im Norden zu helfen", sagt Moriah, eine
entschiedene Kriegsgegnerin. "Per Internet haben wir uns eine private
Unterkunft in Saffed gesucht", erzählt die Mutter, während Moria dem
drusischen Mädchen Souad Buntstifte reicht. Vater Mahdi ist aus Beth Dschan
gekommen. Die verschleierte Mutter Wafa wohnt jetzt im Hospital. Tochter
Souad erhält Antibiotika gegen eine Hautkrankheit. "Wir solidarisieren uns,
um Gutes zu tun", sagt die linksgerichtete Krieggegnerin Moriah. Sie hat
Anthroposophie und Geschlechtswissenschaften (Gender Science) studiert.
Schliack beobachtet: "Fast alle Kinder im Krankenhaus sind Araber oder
Drusen. Die Juden haben das Geld, zu Verwandten oder ins Hotel in den
sicheren Süden Israels zu fahren. Die Araber und Drusen in Galiläa sind
verwurzelter und zu arm, sich den Luxus einer Flucht zu leisten."
Und während Schliack aus der Wohnung von Freunden im Künstlerdorf Ein Hod
südlich von Haifa telefoniert, hört er wieder laute Explosionen.
Hisbollahchef Scheich Hassan Nasrallah hielt erneut ein Versprechen, Raketen
auch "jenseits, jenseits von Haifa" einschlagen zu lassen. Ein Augenzeuge
erzählte im TV-Kanal 10 mehr als erlaubt: "Ich war am Strand von Caesarea.
Genau 200 Meter vom größten Kraftwerk Israels krachte eine Raketen mit
unbeschreiblichem Lärm ins Meer. Wir rannten um unser Leben." Das wurde
nicht mehr wiederholt. Die Nachrichten meldeten: "Raketen in der Gegend von
Hadera". Ein Blick auf die Landkarte verrät die gefährliche Eskalation.
Hadera liegt 50 Kilometer "jenseits" von Haifa und nur noch 40 Kilometer vor
Tel Aviv. Das strategisch wichtige Kraftwerk wird wegzensiert. Aber Israel
drohte, die Infrastruktur des Libanon zu zerstören, sollte Nasrallah die
roten Linien überschreiten. |