Libanon:
Flucht in die Berge
Angesichts der israelischen Luftangriffe
rückt die libanesische Gesellschaft zusammen. Die Hizbollah könnte aus dem
Konflikt politisch gestärkt hervorgehen.
Von Markus Bickel, Beirut
Jungle World 31 v.
02.08.2006
Walid Jumblatt ist einer der wenigen libanesischen
Politiker, der an seiner Meinung aus Vorkriegszeiten festhält. Seit Beginn
der israelischen Luftangriffe auf den Libanon sitzt der Vorsitzende der
Sozialistischen Fortschrittspartei (PSP) und politische Repräsentant der
Mehrheit der libanesischen Drusen in seinem Bergsitz Mukhtara, rund 50
Kilometer südöstlich von Beirut. Drei Wochen nach Beginn des neuen
Libanon-Krieges sind hier mehr als 40.000 meist schiitische Flüchtlinge aus
dem bombardierten Süden des Landes untergekommen.
"Es hängt nun davon ab, ob die Hizbollah ihren Sieg dem Libanon widmet oder
den syrischen und iranischen Regimes", sagte Jumblatt am Wochenende der
Jungle World. Er fürchte jedoch, dass die von Generalsekretär Hassan
Nasrallah geführte "Partei Gottes" sich gegen den Libanon entscheiden werde,
mit dem Ergebnis, dass "ein schwacher libanesischer Staat aus dem Konflikt
hervorgeht". Dessen Politik würde "dann nicht von den Libanesen, sondern von
den iranischen und syrischen Diktaturen diktiert".
Eine Befürchtung, die vor allem Diplomaten teilen, die von Libanesen aber
immer seltener geäußert wird. Eine im Auftrag der libanesischen Tageszeitung
al-Safir vom Beirut Center for Research and Information durchgeführte
Meinungsumfrage ergab Mitte voriger Woche, dass es eine überragende
Zustimmung für den bewaffneten Kampf der Hizbollah gegen die israelischen
Truppen gibt. 86,9 Prozent unterstützten den Krieg, selbst unter Christen
und Sunniten lag die Zustimmung über 80 Prozent, unter der schiitischen
Bevölkerungsgruppe sogar bei 96,3 Prozent
Zwar bezeichnete fast ein Drittel aller Befragten die Gefangennahme zweier
israelischer Soldaten durch Hizbollah-Einheiten am 12. Juli als falsch. Doch
je länger die Kämpfe andauern, umso mehr rückt der Alleingang der Hizbollah,
der den Krieg auslöste, in den Hintergrund. Die sich verschärfende
humanitäre Lage vor allem im Süden des Landes und die in allen Teilen des
Landes zerstörte Infrastruktur lenken den Blick auf andere Probleme.
Auch die Rufe nach "nationaler Einheit" verklingen nicht – und das nachdem
viele politische Beobachter unmittelbar nach Beginn des neuen
Libanon-Krieges befürchtet hatten, die alten Unstimmigkeiten zwischen den
rivalisierenden Bevölkerungsgruppen und politischen Fraktionen könnte dazu
führen, dass interne Konflikte gewaltsam ausbrechen. Knapp drei Wochen nach
Beginn des neuen Krieges hält jedoch die Solidarität der insgesamt 18
Konfessionen des Libanon. Angesichts der anhaltenden israelischen
Lufttangriffe und der gewaltigen bevorstehenden Wiederaufbauleistung rückt
die libanesische Gesellschaft zusammen.
"Unter diesen dramatischen Umständen müssen wir alles vergessen, was uns
trennt", sagte etwa der katholisch-maronitische Kardinal Nasrallah Boutros
Sfeir. Die Libanesen müssten jetzt hinter ihrer Regierung stehen, um die
gegenwärtige Krise bewältigen zu können. Die Maroniten, die den Papst als
Oberhaupt anerkennen, aber von dem Patriarchen Sfeir geführt werden, sind
die größte christliche Konfession im Libanon. Auch viele
griechisch-orthodoxe, griechisch-katholische, armenisch-orthodoxe,
armenisch-katholische, koptische und syriaktische Gläubige leben in dem etwa
vier Millionen Einwohner zählenden Land.
Zur Überraschung vieler stellt sich nicht nur die größte, auf etwa 40
Prozent geschätzte schiitische Bevölkerungsgruppe hinter die von Nasrallah
geführte "Partei Gottes". Nabil Dajani, Soziologe an der American University
Beirut, konstatiert: "Je länger der Konflikt dauert, umso stärker wird der
Rückhalt für die Hizbollah." Das sei zu Beginn des Krieges noch nicht der
Fall gewesen. Selbst im überwiegend von Sunniten bewohnten Stadtteil Hamra
hört man dieser Tage Lobreden auf Nasrallah. Die israelischen Angriffe
verdecken bis auf weiteres politische und konfessionelle Differenzen. Saad
Hariri, der sunnitische Führer der antisyrischen Parlamentsmehrheit und Sohn
des im Februar 2005 ermordeten früheren Premierministers Rafik Hariri,
erklärte: "Ich rufe das libanesische Volk auf, vereint zu bleiben und die
nationale Einheit zu wahren."
Vor allem unter europäischen Diplomaten jedoch hört man Skeptiker, die
bezweifeln, dass die Solidarität mit den überwiegend schiitischen
Flüchtlingen den Konflikt überdauern wird. Schon bald dürften sich vor allem
auf christlicher, aber auch auf sunnitischer Seite Absetzbewegungen
bemerkbar machen. Mit möglicherweise fatalen Folgen: Viele fürchten, die in
der Resolution 1.559 des Uno-Sicherheitsrats im September 2004 international
erstmals geforderte, inzwischen auch von Israel als Bedingung für einen
Waffenstillstand genannte Entwaffnung der Hizbollah werde unweigerlich zu
internen bewaffneten Auseinandersetzungen führen.
Zumindest auf politischer Ebene stehen wahrscheinlich entscheidende
Umwälzungen an. Zwei Minister stellt die prosyrische und proiranische
Hizbollah im mehrheitlich antisyrischen Kabinett des sunnitischen
Premierministers Fouad Siniora, im Parlament ist sie mit 14 Abgeordneten
vertreten. Amal Saad-Ghorayeb, Autorin des Buches "Hizbollah – Politik –
Religion", rechnet damit, dass schon bald nach Ende des Krieges Neuwahlen
ausgerufen werden und die Hizbollah ihren Einfluss in den politischen
Institutionen des Landes stärken kann.
Eine Aufnahme Michel Aouns, des kurzzeitigen maronitischen Premierministers
und Oberbefehlshabers in der Endphase des Bürgerkrieges (1975-1990), in die
Regierung hält die Politikwissenschaftlerin für unumgänglich. Aoun hatte
Nasrallah im Februar in einem spektakulären Pakt zugesichert, am Recht der
Hizbollah auf ihre Waffen nicht zu rütteln. Ein knappes halbes Jahr später
erweist sich das christlich-schiitische Bündnis als wichtiger Garant für die
nationale Einheit. "Wenn die israelische Regierung glaubt, einen Keil
zwischen die schiitische und die anderen libanesischen Bevölkerungsgruppen
treiben zu können, irrt sie sich gewaltig", sagt Saad-Ghorayeb.
In Bergorten wie Beit Meri, Broumana oder Mohaidsy, wo die Reichen des
Landes seit Jahrzehnten die Sommerzeit verbringen, kann man die neue Allianz
längst begutachten. Auf der Ausgehmeile Broumanas sind die Restaurants
zumindest für zwei Stunden am Freitagabend gut besetzt, Johnny-Walker- und
Havana-Club-Flaschen zieren ein paar der Tische im Restaurant "Ya’li Sahar".
Unter den Gästen sind Frauen mit Kopftuch ebenso zu sehen wie tanzfreudige,
dem Genuss von Alkohol offensichtlich nicht abgeneigte Besucher. Der
Reichtum sprengt hier alle konfessionellen Grenzen, zumindest vorübergehend.
Doch nur fünf Minuten Autofahrt weiter wird das ganze Elend dieses Krieges
offenbar. In einer Schule in Mohaidsy sind über 200 aus dem Südlibanon
kommende Flüchtlinge untergebracht. Den Kindern fehle es an Windeln und
Medikamenten, 21 Leute müssten pro Raum untergebracht werden, erzählt Soha,
eine Lehrerin, die sich hier gemeinsam mit einem Dutzend weiterer
Freiwilliger um das Wohl der Geflohenen kümmert. Was die Freiwilligen eint:
Sie alle sind Anhänger von Aouns Freier Patriotischer Bewegung.
hagalil.com 08-08-2006 |