Israels Außenministerin in Berlin:
Jude sein bedeutet...
Ansprache der israelischen stellv. Ministerpräsidentin
und Außenministerin Tzipi Livni anlässlich der
Gedenkzeremonie für die jüdischen Bürgerinnen und Bürger Berlins, die vom
Berliner Bahnhof Grunewald, - „Gleis
17“ -, deportiert wurden.
Berlin, 28.8.06 - Jude sein bedeutet, Holocaust zu träumen, Holocaust zu
leben und Holocaust zu sterben, ohne selbst dort gewesen zu sein.
Jude sein bedeutet, zu versuchen, sich das Grauen vorzustellen, da
anzuhalten, wo es am meisten schmerzt, und zu wissen, dass man noch weit von
den Schmerzen derjenigen entfernt ist, die dort waren.
Jude sein bedeutet, bei der Begegnung mit einem älteren Menschen fragen zu
wollen, ob er dort war und was mit ihm geschehen ist, es jedoch nicht wagt,
diese Fragen zu stellen.
Eine jüdische Mutter zu sein bedeutet, bei der Geburt seines zweiten Kindes
zu verstehen, wie unmöglich und unmenschlich es ist, zwischen beiden Kindern
wählen zu müssen.
Eine jüdische Mutter zu sein bedeutet, seine Kinder anzusehen, und sich zu
fragen, ob sie schon groß genug sind, ohne einen zurechtzukommen.
Eine jüdische Mutter zu sein bedeutet, seine Kinder anzusehen, und sich zu
fragen, welche Entscheidung die richtige ist – sie mit sich zu nehmen, oder
ihnen zu sagen, sie sollen vom Zug springen.
Israeli zu sein bedeutet, zu wissen, dass du aus der Asche der Ermordeten
entstanden bist, und die Verantwortung für die künftigen Generationen
trägst.
Ein israelisches Kind zu sein bedeutet, zu versuchen, sich die Zahl sechs
Millionen vorzustellen und immer wieder an diesem Versuch zu scheitern.
Israeli zu sein bedeutet, in Straßen zu wohnen, die den Namen ganzer
Gemeinden tragen, die ausgemerzt wurden – weil es nicht genug Straßen gibt,
um nach jedem Ermordeten eine davon zu benennen.
Israeli zu sein bedeutet, in einem Staat zu leben, der nach außen hin stark
erscheint, sich jedoch stets an die Schwäche seines Volkes erinnert.
Ein zwölfjähriges Mädchen in Israel zu sein bedeutet, zu seiner
»Bat-Mizwah-Feier« das Buch »Hier gibt es keine Schmetterlinge« geschenkt zu
bekommen – Gedichte von Kindern im Ghetto Theresienstadt – und zu begreifen,
dass diese Kinder genauso waren wie du, und dass auch sie nichts anderes
wollten als spielen, leben und lieben.
In Israel Teenager zu sein bedeutet, seine Abiturfahrt zu den
Konzentrationslagern zu machen, und dort die Spuren der Fingernägel
derjenigen auf den Wänden der Gaskammern zu sehen, die auf diese Weise zu
entkommen versuchten. Es bedeutet, die Duschen zu sehen, die Berge
herrenloser Schuhe, und danach Dinge, die Teenagern andernorts als
selbstverständlich erscheinen, nie wieder mit denselben Augen zu betrachten.
Eine israelische Mutter zu sein bedeutet auch, erstaunt festzustellen, dass
du deinen Kindern die kollektive Erinnerung und die Erfahrung des Holocaust
mit auf den Weg gegeben hast, und das, obwohl du ihnen diesen Schmerz
ersparen wolltest, obwohl du ihnen die Last ersparen wolltest, die du selbst
stets mit dir trägst. Aber als Tochter des jüdischen Volkes fühltest du dich
verpflichtet, ihnen auch die Erinnerung weiterzugeben, damit sie, und nach
ihnen ihre Kinder und Kindeskinder, diese auf alle Zeiten bewahren… und du
entdeckst, dass dein nationales Handeln vielleicht stärker war, als dein
mütterliches Gefühl.
In Israel als Jude in der Regierung zu sitzen bedeutet, dich zu fragen, ob
du, wenn du dort gewesen wärst, die Vorzeichen erkannt hättest? Ob du
rechtzeitig die richtigen Entscheidungen getroffen hättest? Es bedeutet, zu
verstehen, dass der Holocaust eigentlich nicht die Schwäche des jüdischen
Volkes ist, sondern die Stärke des Staates Israel.
Es bedeutet vor allem, zu schwören, niemals zu vergessen.
Es gilt das gesprochene Wort.
Hebräisches Original
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