Pawlow'scher Trieb:
Die Guten, die Intelligenten und die Pfuscher
Kolumne von Yoel Marcus, Ha'aretz, 25.08.2006
Übersetzung Daniela Marcus
Wer verstehen will, was uns in diesem Krieg
geschah, der sollte das Buch von David Halberstam "The Best and the
Brightest" (Die Besten und die Intelligentesten) lesen. Halberstam,
der für die New York Times über den Vietnamkrieg berichtete,
beschreibt in dem Buch meisterhaft wie John F. Kennedy und seine
talentierten Männer Amerika in einen Guerillakrieg in Vietnam
hineinzogen, der keine Möglichkeit bot, ihn überhaupt zu gewinnen.
Sechzig Tausend amerikanische Soldaten wurden
gemeinsam mit einer Million Vietkong-Guerillas und vier Millionen
vietnamesischen Zivilisten getötet. Barbara Tuchman schreibt in
ihrem Buch "The March of Folly" (in Deutsch unter dem Titel "Die
Torheit der Regierenden – Von Troja bis Vietnam" erschienen), dass
die Anzahl der Bomben, die Amerika über Vietnam abwarf weitaus
größer war als die Anzahl der Bomben, die während des Zweiten
Weltkrieges über Deutschland abgeworfen wurden. Am Ende zog sich die
größte Supermacht der Welt aus Vietnam zurück ohne einen Sieg
errungen zu haben. Dies zeigt wie schwer es für eine ausländische
Armee ist, eine Guerillatruppe in deren eigenem Land zu besiegen.
Jeder, der nicht versteht, warum wir die Hisbollah nicht vernichten
konnten, wird die Antwort in folgender einfacher Wahrheit finden:
Man kann die Motivation einer nationalen Miliz nicht auslöschen. Die
PLO war keine libanesische Organisation. Deshalb war es uns möglich,
diese Organisation, die von Yassir Arafat angeführt wurde, zu
besiegen und aus dem Libanon zu vertreiben. Beinahe die Hälfte der
Libanesen sind Schiiten. Und somit hat eine Organisation, die für
ihre Landsleute kämpft, einen eingebauten Vorteil gegenüber uns. Es
ist schwer, eine Miliz k. o. zu schlagen, wenn sie auf eigenem Boden
kämpft und bereit ist, dafür zu sterben.
Dass wir den Krieg gegen die Hisbollah mit unseren massiven
Luftangriffen nicht gewonnen haben und dass wir mit ansehen mussten
wie die israelische Heimatfront von 4.000 Raketen beschossen wurde,
war demütigend für uns. Die israelischen Reservisten, die ohne
angemessene Ausrüstung tief in die Gebiete der Hisbollah gesandt
wurden, haben ihren Ärger nicht zurückgehalten. Über Nacht sind
Protestbewegungen entstanden. Sie fordern eine nationale
Untersuchungskommission und die Entlassung von Ehud Olmert, Dan
Halutz und Amir Peretz.
Doch der öffentliche Aufschrei tut den besagten Personen ein
gewisses Unrecht an. Halutz hat einen großartigen militärischen
Verstand und ist ein außergewöhnlich fähiger Soldat. Peretz ist kein
Militärexperte, doch er besitzt Führungsqualitäten und Erfahrung.
Olmert ist ein weiser, erfahrener, kluger Politiker mit einem kühlen
Kopf, der es in Amerika zu etwas gebracht hat.
Es geschah nun, dass unsere Besten und Intelligentesten plötzlich
den Verstand verloren und einen Anfall von unbesonnenem,
schlampigem, unausgereiftem Denken hatten. Dies wäre einigen Leuten,
die diese Posten vor ihnen innehatten, niemals passiert. Jitzchak
Rabin war zum Beispiel ein besorgter Typ. Allein bei dem Vorschlag
einer Militäroperation wäre sein Gesichtsausdruck grimmig geworden
und man hätte gut raten können, worüber er nachdachte, über seinen
Nervenzusammenbruch kurz vor dem Sechstagekrieg, über seine
politische Niederlage im Jahr 1977, über die Erfahrungen der ersten
Intifada. Jitzchak Schamir konnte in keinerlei militärische Eskapade
hineingezogen werden. Er genehmigte seinem Verteidigungsminister
Moshe Arens und seinem Generalstabschef Ehud Barak nicht, den Irak
bombardieren, nachdem dieser Israel während des zweiten Golfkrieges
mit Raketen beschossen hatte.
Die Verteidigungstroika, die heute im Amt ist, hatte einen
Pawlow’schen Trieb sofort zu reagieren, nachdem die israelischen
Soldaten entführt worden waren. Sie hätte sagen können: "Wir werden
zurückschlagen, wenn wir gut und bereit sind." Doch was sie leitete,
war die Angst, dass Israel seine Legitimität in der globalen Arena
verlieren könnte, wenn es nicht sofort handeln würde. Legitimität um
was zu tun? Den Krieg zu verlieren und George Bush und die
arabischen Länder zu enttäuschen, die darauf bauten, dass wir die
fundamentalistische Terrororganisation, die auch sie bedroht,
stoppen würden?
Das Kabinett handelte hastig als es den
"Gebt-uns-10-Tage-und-wir-lassen-es-dabei-bewenden"-Plan genehmigte.
Wir ließen es in der Tat dabei bewenden, doch wir haben unseren Job
nicht erledigt. Wir haben weder die entführten Soldaten befreit noch
haben wir die Hisbollah vernichtet. Die Entscheidung wurde zu
schnell getroffen. Die Reservisten waren nicht genügend trainiert.
Ein irrsinniger Mangel an Munition erforderte einen Nottransport aus
Amerika. Hätte nicht jemand rechtzeitig an solche Dinge denken
können?
Trotz aller öffentlichen Wut und der lautstarken Forderung, die
"drei Großen" aus ihrem Amt zu werfen, muss man nach nochmaligem
Überlegen sagen, dass sich die Forderung nach Entlassung der
Regierung und nach der Einberufung einer Untersuchungskommission in
einen schweren Fehler verwandeln könnte. Denn wir haben derzeit
keine besseren Spieler auf der Bank sitzen. Und angesichts der
vielen Herausforderungen, die vor uns stehen, haben wir keine Zeit
für eine Kommission, die beginnt, alles zu untersuchen, was seit dem
Mai 2000 passiert ist und ihre Schlussfolgerungen erst in etwa einem
Jahr ziehen wird. Es ist besser, die gegenwärtige Regierung, die
kaum vier Monate alt ist, im Amt zu lassen, sie aus ihren Fehlern
lernen und einige Verbesserungen vornehmen zu lassen. Indem wir
Köpfe rollen lassen, werden wir uns nicht wieder aufbauen können.
hagalil.com 26-08-2006 |