Und nach einem "Schweigen der Waffen"?:
Die Schmerzen des Friedens
Von Hans F. Schmidt
Über ein halbes Jahrhundert Nahostkonflikt führt
tragisch vor Augen, dass Friedenshoffnung und Gewaltausbruch sich scheinbar
zyklisch einander abwechseln. Verhält es sich womöglich so, dass jeder
mühsam verhandelte und spektakulär verkündete Friedens-"Prozess", nicht etwa
einem Frieden von Dauer auf die Sprünge helfen kann, sondern vielmehr immer
schon die Saat zu neuer Gewalt in sich trägt – einfach deshalb, weil man
sich über die Anforderungen eines echten Friedens überhaupt nicht im Klaren
ist?
Fatalistisch wie sie klingt, kommt eine solche Ahnung der
eigentlichen Situation, die hinter allen Friedensappellen und Beteuerungen
des Willens zum Frieden steckt, doch eigentlich recht nahe. Denn obwohl es
eigentlich entscheidend wäre, kommt es doch selten zur Sprache, dass
(entgegen aller Wunschvorstellungen!) "Frieden" durchaus nicht der selige
Zustand der Harmonie aller ist, in dem nur reine Eintracht unter den
Menschen herrscht. Frieden ist ein Unternehmen, das genau besehen nicht
weniger Opfer, Leiden und Enttäuschungen mit sich bringt, als der Krieg
selbst, den der Frieden überwinden soll. Vielleicht weniger blutig, aber
sicher nicht weniger schmerzhaft.
Frieden, vor allem wo er Konflikt überwinden soll, ist
schließlich nichts weniger, als die höchst komplizierte Notwendigkeit,
gegenläufige Erwartungen umzustellen und aufeinander abzustimmen. Und das
bedeutet, wenn sie unversöhnlich scheinen, für alle Beteiligten zunächst nun
einmal nichts anderes als die Zumutung von Verzicht und Opferbereitschaft.
Und genauso auch: Kenntnis gewinnen über das, was bei einem selbst und beim
Anderen vor sich geht, auch und gerade, wenn man es nicht so gerne sehen
will.
Es gilt Fragen zu klären wie: Welche Erwartungen können
wie umgeschichtet und durch andere ersetzt werden, seien sie auch noch so
"heilig"? Welche Anreize können die Zumutung der Änderung kompensieren, beim
anderen, bei sich? Vor allem aber ist auch etwas ganz anderes zu klären, das
sich nicht so recht mit der festlichen Stimmung von Friedensfeiern vereinen
lässt, aber doch für jeden "Friedensprozess" schier die Atemluft zum
Überleben darstellt: wie können Enttäuschungen und Rückschläge in der
Neukoordinierung von Erwartungen verkraftet werden, und Geduld und Weitsicht
erhalten bleiben, wenn momentane Anstrengungen grausam frustriert werden?
Die Kunst der "Friedensführung" verlangt von den Menschen
nicht nur Entschlossenheit im Handeln, sondern gerade auch das, was dem
Handeln zunächst einmal gewissermaßen im Weg steht, nämlich das
differenzierte Abschätzen der Ergebnisse des Handelns. Dass das dann auch
einmal gerade den Verzicht auf Handeln bedeuten kann, das geduldige
Umdisponieren bei Handlungsmöglichkeiten und Erwartungen, und auch das
Inkaufnehmen von Verlusten, denen kein unmittelbarer Gewinn folgen kann,
macht sie zu einem so schweren Geschäft.
Was die Rhetorik des Krieges der Rhetorik des Friedens
schon immer voraus hatte, ist aber genau dies: die erfolgreichere, simpler
einleuchtendere, weil kurzfristiger offensichtliche
Opfer-Nutzen-Kalkulation. Krieg ist zwar bitter, bringt Not, Elend und Tod.
Aber er kann nicht nur von seinen Befürwortern als notwendig im Angesicht
der Perfidie des Feindes dargestellt werden, und so lange als erfolgreich,
wie sich die Wut der Besiegten noch nicht wieder neu bewaffnet hat. Er
verschafft im Stress der erlittenen Schädigungen vor allem rasche Genugtuung
für erlittenen Schmerzen, wenn die Bomben gezündet und dem Feind
Handlungsmöglichkeit und Lebensglück geraubt ist. Er bringt Männern an der
Front und Müttern daheim die schnelle Ehre der Tapferkeit und Entbehrung,
die den Todesschrecken vergessen macht und die größere Anerkennung bringt,
als alle anderen Verdienste im täglichen Leben. Krieg verhilft zur
Bestätigung von Männlichkeit und zur Lust am taktischem Spieltrieb. Die
Armee oder die Freiheitskampforganisation stellt jeden auf seinen Platz, auf
dem er wissen kann, was er zu tun hat und wo er hingehört.
Krieg mag einem sinnlos erscheinen, wenn man seine
schädliche Wirkung zu spüren bekommt. Aber am anderen Ende des Kanonenrohrs
ist er durchaus nicht ohne allen Sinn. Dort ist er wie eine Droge. Er
benebelt mit der Wucht der Emotion und der Logik des Naheliegenden.
Viel schwerer hat es da die Strategie des Friedens, die
Entschlossenheit und den Heldenmut zu erzeugen, mit der sich regelmäßig die
Mengen hinter den (Ver-)Führern in den Krieg scharen. Auf die Schmerzen des
Zurückhaltens des eigenen Zorns, des Überlegens und Abwägens der Folgen von
Widerstand oder Duldung, von Anreiz und Zugeständnis, auf die des
Über-den-Schatten-Springens und des Abschieds von bequemen
Wunschvorstellungen fließt nicht so schnell der wohltuende Balsam der
Helden- und Märtyrerverehrungen, der Orden und der befriedigenden
Explosionen in der Stadt des verachteten Feindes.
Kaum ein Wunder also, dass es angesichts solcher ganz
anderen Schwierigkeiten nicht nur so mühsam ist, die Kombattanten des
Nahost-Konflikts vom Sinn der Mäßigung zu überzeugen. Es ist wohl auch der
Grund dafür, dass auch die diplomatischen und journalistischen Appelle und
Bewertungen sich um kaum mehr drehen, als um die immergleichen Floskeln vom
"Ende der Gewalt" und vom "Beginn von Verhandlungen", ohne dass je recht
auf’s Tableau der Öffentlichkeit kommt, welche weiter führenden Konzepte,
diesen Verhandlungen eigentlich zugrunde liegen sollen.
Aber auch wenn sich die Strategie des Friedens nicht immer
das Gehör von Politikern und der breiten Bevölkerung verschaffen kann, so
hat doch zumindest die westliche Welt in ihrer Geschichte eine ganze Reihe
von "Friedenstechniken" entwickelt – wenn auch in vielen Rückschlägen
eigener Kriege und Diktaturen blutig erkauft –, deren weitgehend
reibungsloses Funktionieren ihr einen schon über 60jährigen inneren Frieden
gesichert hat.
Zentrale Errungenschaften sind dabei nicht zuletzt die
strikte Trennung von Politik und Recht, und damit einhergehend nicht allein
die bekannte Monopolisierung der Gewaltanwendung. Denn nicht nur die
Ausübung von Gewalt wird streng auf den Staat begrenzt. Auch die
Entscheidung wer wann in welchem Ausmaß von Zwangsausübung betroffen werden
darf, ist im Westen einem strengen, hochkomplexen juristischem Reglement
unterworfen, einschließlich der Frage, wann es rechtskonform ist, den
"Kriegs- bzw. Verteidigungsfall" festzustellen und wann nicht. Dass sich
Zwangsausübung nur auf denjenigen beschränkt, der sich auch eines
Normverstoßes schuldig gemacht hat, und dass sich diese Ausübung von Gewalt
auch noch in einem Rahmen hält, der seine Rehabilitierbarkeit bei Irrtum
oder nach Verbüßen der Strafe möglich macht – darüber wacht mit Polizei,
Gerichten und deren Dienst- und Rechtsauffassungen ein sicheres Netz von
Institutionen, das nicht zuletzt die Funktion hat, Emotionen,
Vergeltungstriebe und kollektive Solidarisierungen bei Konflikte im
Paragraphendschungel von Verfahren zu ersticken. Die kategorische Ablehnung
des gezielten und nicht gezielten Tötens aufs Geratewohl, zu dem sich im
Orient beide Seiten legitimiert fühlen, ist in Europa nicht "Luxus" des
Friedens, sondern gerade das wichtigste (wenn auch gleichfalls nicht ganz
schmerzfreie!) Mittel zu dessen Erhaltung.
Aber das allein ist es noch nicht, das den Erfolg brachte
im friedlichen Kampf gegen Konflikteskalationen. Damit Institutionen
gedeihen können, bedarf es auch anderer Entwicklungen, die im Westen nicht
nur zum politischen, sondern zum kulturellen Wert geworden sind – und deren
wirkliche Durchsetzung der ganze Nahe Osten noch vor sich hat. Dazu gehört
die Idee der abstrakten "Gleichheit" aller Menschen, und zwar mit all ihren
Konsequenzen. Religiöse Werte, kulturelle Modalitäten, familiäre
Rücksichtnahmen, also Bereiche, mit denen sich kollektive Exklaven
("Parallelgesellschaften" etc.) bilden könnten, treten in den Bereich des
Privaten zurück, und sollen nicht mehr zum Gesichtspunkt der Inklusion oder
Exklusion in die "pluralistische" Gesamtgesellschaft werden. Aus
Konfliktexzessen wird gewissermaßen nur die Gewalt herausgeschmolzen und nur
als solche juristisch bekämpft. Und: Alle Menschen sollen von politischen
Entscheidungen gleichermaßen profitieren können, aber auch gleichermaßen
deren Verpflichtungen wahrnehmen. Und damit nun das wiederum nicht an den
Barrieren von kulturellen Gegensätzen scheitert, ist schließlich auch der
Erwerb "interkultureller Kompetenzen" zum Gegenstand des allgemeinen
Konsenses und Strebens geworden: Erlernen von Sprachen, Erwerb von Wissen
über das Fremde und seiner Handlungsweisen.
Ohne Zweifel: die Folgerisiken, die das hat, sind
unübersehbar. Von den Schwierigkeiten der Integration, die man anstrebt,
über schwer zu optimierenden Wohlstands- und Gerechtigkeitserwartungen, bis
zur notwendigen Akzeptanz der Tatsache, durch strenge Konditionierung der
staatlichen Gewaltausübung manche Verbrechen in Kauf nehmen zu müssen. Aber
trotzdem sind die Vorzüge dieses westlichen "Pragmatismus des flexiblen
Konsenses" weltweit unübertroffen. Und der Weg des Nahen Ostens zu einem
Frieden, welcher nicht immer nur als eine Friede der Unzufriedenen den
nächsten Gewaltexzess hinauszögert, wird nur mit den Schritten des Erwerbs
dieses "Konsenspragmatismus" in dieser Region geebnet werden können, der
Religion, Politik, Kriminalität strikt trennt, und verschiedene soziale
Prägungen aneinander integriert, statt abschottet.
Das aber kann definitiv nicht heißen, sich immer nur von
Waffenstillstand zu Waffenstillstand zu hangeln. Es müsste heißen, zunächst
einmal den irrealen Erwartungen beider Kombattanten, Israels und seiner
arabischen Umwelt, auf den Grund zu gehen. Und die lassen sich erst dann
umstellen und aufeinander hin optimieren, wenn sie durch die westliche
Strategie des Friedens überhaupt erst einmal auf den (Verhandlungs-)Tisch
kommen.
Der Krieg im Nahen Osten ist kein Krieg der Kulturen,
sondern ein Krieg der Illusionen und Undurchdachtheiten – auf beiden Seiten.
Und das vor allem in Bezug auf die trügerischen Vorstellungen von den
Möglichkeiten und der Realisierbarkeit der eigenen politischen
Vorstellungen.
Da wären auf der einen Seite die der Palästinenser, die in
ihrer verfahrenen Situation auch noch das Pech haben, sich nur fragwürdige,
eigennützige Nothelfer einzuhandeln. Zu viele unter ihnen sind weniger
Gefangene der "jüdischen Okkupanten" als ihrer Wut, die in ihnen die
Illusion sich hartnäckig am Leben sich halten lässt, dass man eines Tages
dem "Staat Israel" (aber wer ist das, wo wohnt er?) die erlittenen
Demütigungen heimzahlen müsste und könnte. Aber auch wenn es gelingt diesen
Teil der Palästinenser nicht direkt militärisch, sondern eher durch Änderung
der politischen Rahmenbedingungen therapieren, und sie auch bei weitem nicht
die Mehrheit unter diesen darstellen: gleichermaßen illusionär dürfte wohl
auch die Vorstellung sein, dass der so vehement geforderte und zur Bedingung
des Friedens gemachte "eigene Staat" das große Simsalabim für die Lösung
aller Probleme sei. Jedem, der nur ein bisschen über die Oberfläche eines
solchen Projekts hinausdenkt, dürfte doch klar sein, dass ein solcher Staat
angesichts der erwiesenen Unzuverlässigkeit der arabischen Bruderstaaten,
des Mangels jeglicher nennenswerter Industrie, der völligen Abhängigkeit von
der israelischen Wirtschaft und angesichts einer noch im patriarchalischen
Macho-Sumpf der arabischen Befindlichkeiten steckende Pseudo-Demokratie,
wohl schon fast buchstäblich kaum den Abend des Tages seiner Proklamation
erleben würde. Da ist es immer noch leichter, in der israelischen Okkupation
den Grund allen Übels zu sehen und zu bekämpfen.
Doch auch auf der anderen Seite sieht es nicht weniger
verheerend aus, was das Bewusstsein um die eigentlichen Probleme angeht.
Israel ist bis zur Stunde fest in der babylonischen Gefangenschaft der fixen
Idee eines rein "jüdischen" Staates, obwohl eigentlich niemand so genau
sagen kann, wie der eigentlich in der modernen Welt aussehen könnte. Kaum
lässt sich erkennen, wie die weitgehend auf 5000 Jahre alten Schriften
beruhende "jüdische Identität" die tiefen Klüfte miteinander verbinden
sollte, die sich aller Orten auftun: zwischen russischen, äthiopischen,
amerikanischen, europäischen Einwanderern und deren verschiedenen
konfessionellen und kulturellen Differenzen. Und noch gravierender zeigt
sich die zwischen den religiös Orthodoxen bzw. den fanatischen Zionisten in
Jerusalem und den Software-Ingenieuren und der hedonistischen Disco-Jugend
in Tel Aviv. Viel mehr als die prähistorischen Papyrusrollen im "Schrein des
Buches", ist es da die verhängnisvoll-bequeme kollektive Vorstellung von den
unterentwickelten destruktiven Arabern rings um das bedrohte Völkchen der
verfolgten, aber entschlossenen und einträchtigen Juden, die noch als
universeller Bezugspunkt taugen kann, der die auseinanderdriftende Nation in
der einzig noch gleich machenden grünen Armee-Uniform noch wirklich
zusammenhält. Wie kann man da noch zwischen echtem und insgeheim
lebenswichtigem Bedrohungsszenario unterscheiden?
Insgesamt nährt sich der Konflikt mit all seinen
kurzfristigen und mal mehr und mal weniger heftig ausschlagenden
Vergeltungszirkeln von der generellen illusionären Wunschvorstellung, dass
man sich doch noch irgendwie gegenseitig loswerden oder zumindest gefügig
machen könnte (was dasselbe ist), ob mit Hilfe von Selbstmordattentätern,
Katjuscha-Attacken, Apache-Hubschraubern oder von hohen Mauern - oder welche
Schildbürgerstreiche man sich sonst noch in der Zukunft aushecken wird. Die
Wunden, die der Krieg zufügt und die man der ratlosen Welt demonstrativ als
Legitimation des jeweils eigenen Handelns entgegenstreckt, sind da bei allen
Schmerzen doch immer noch einfacher zu ertragen, als schmerzhafte Gedanken
über die 'unzufriedenstellende Gesamtsituation' ("Der Schuh des Manitu").
Wer aber am Ende aller wie auch immer legitimierten oder
naheliegenden Gewaltaktionen echten Frieden will, und nicht nur kurzfristige
Affektregulierung, die ihm die simple Logik der Gewalt verschafft, wer ihn
ernsthaft will, der muss sich auf einen anderen Weg machen als den, der
erwiesenermaßen im Kreis führt. Nicht den, der mit der Waffe ins ruhmreiche
Feld führt. Sondern mit den Errungenschaften der westlichen
"Friedensstrategien" auf den längeren, beschwerlicheren Weg in eine
unbestritten nie ausrechenbare Zukunft, in der aber das Aushalten und
wechselseitige Optimieren von Differenzen als heroischer angesehen wird, als
das heldenhafte Besiegen des Feindes zur Bewahrung der eigenen Einheit und
Tradition (oder eher: kultivierten Ignoranz).
Oder besser gesagt: auf den Weg in eine solche ohnehin
schon längst reale Gegenwart. Denn warum sollte denn nicht in Kirjat Arba
und Hebron das gleiche möglich sein, was in Haifa und Nazareth ohnehin schon
längst Realität ist? Juden und Araber Haus an Haus und die Unterschiede an
Religion und Sprache nicht so wichtig, weil nun einmal: erlernbar! Der Krieg
im Nahen Osten ist kein Krieg der Kulturen, sondern der Privat-Krieg von nur
Einigen.
Nur welche Seite sollte sich zuerst auf diesen Weg machen, auf dem man
einiges an Identität zurücklassen muss, aber am Ende in der Moderne ankommt?
Diese Frage dürfte zur Abwechslung einmal recht einfach zu beantworten sein:
diejenige, die für sich den Anspruch erhebt, Bastion der besagten
"westlichen Moderne" zu sein! Oder nicht?
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