Chronologie:
Wie der Krieg im Libanon ausbrach
Von Ulrich W. Sahm, Jerusalem
Der Libanonkrieg dauert fast einen Monat an und schon sind die Umstände
seines Ausbruchs zum Mythos geworden. Immer wieder wird Israel
unproportionale Gewalt vorgeworfen, wegen "nur" zwei entführten Soldaten
einen Krieg angezettelt zu haben. Ein Zurückblättern bei Berichten der
Nachrichtenagenturen am 12. Juli ergibt erklärt, wieso der Grenzzwischenfall
zum vollen Krieg eskalierte. Und manche wird es verwundern, dass gemäß dem
franko-amerikanischen Vorschlag zu einer Feuerpause allein Hisbollah diesem
Krieg ausgelöst habe, nicht Israel.
Um 9:45 meldete Reuters unter Berufung auf israelische Militärkreise, dass
"Gunmen" (Schützen) aus dem Libanon auf den Norden Israels "feuern".
Zunächst wird nicht gemeldet, was da aus Libanon "gefeuert" wird. In
Schlomi, 2 Kilometer von der Grenze entfernt, gibt es mindestens ein
israelisches Opfer. Zu dem Zeitpunkt verdächtigen israelische Militärs
sowohl radikale Palästinenser wie die Hisbollah, Israel mit Raketen und
Mörsern zu bombardieren.
Eine dreiviertel Stunde später, um 10:26 Uhr meldet sich erstmals die
Hisbollah in Beirut zu Wort und bestätigt einen gegenseitigen Beschuss mit
Raketen und Artillerie entlang der Grenze zu Israel. Zwei Minuten danach
veröffentlicht Reuters aus Marjayoun im Südlibanon, dass "Hisbollah
Guerillas" dutzende Katjuscharaketen und Mörsergranaten auf israelische
Grenzposten und auf eine namentlich nicht genannte Stadt abgeschossen
hätten. Dabei seien vier Israelis verletzt worden. Reuters beruft sich auf
israelische wie libanesische Sicherheitskreise.
Eine viertel Stunde später, also fast eine Stunde nach Ausbruch der Kämpfe,
um 10:41 Uhr, behauptet die Hisbollah in Beirut erstmals, zwei israelische
Soldaten gekidnappt zu haben. Israel habe die Angriffe "vergolten", indem es
Artilleriesalven auf die "Außenränder von vier libanesischen Grenzdörfern"
geschossen habe. Die Kämpfe hätten begonnen, nachdem mindestens zwei Raketen
aus Libanon in der israelischen Ortschaft Schlomi explodiert seien und vier
Israelis verletzt hätten. Gleichzeitig hätten gemäß libanesischen
Sicherheitskreisen die Hisbollah Guerillas die Schaba Farmen bei den
Golanhöhen angegriffen.
Erst eine Stunde und sechs Minuten nach der ersten Meldung über Kämpfe
entlang der gesamten Grenze, von Schlomi im Westen und bis zu den Schaba
Farmen im Osten, kommt ein erster Bericht aus Israel über "vermisste
Soldaten". Der Militärsprecher will die Behauptungen aus Beirut nicht
bestätigen, "befürchtet aber, dass sie entführt wurden".
Die Israelis gestanden später, den Überfall auf die Patrouille und die
Entführung der beiden Soldaten zunächst nicht bemerkt zu haben, weil sie von
den Raketenangriffen aus Libanon abgelenkt waren. Zudem passierte der
Überfall an einem von Überwachungskameras nicht abgedeckten Grenzabschnitt.
Aus dem Ablauf der Agenturmeldungen an jenem 12. Juli geht deutlich hervor,
dass der Krieg mit gegenseitigem Raketenbeschuss längst tobte, als die
Israelis das Fehlen von zwei Soldaten bemerkten.
Die verbreitete Darstellung, als habe Israel diesen Krieg "nur wegen zwei
entführten Soldaten" ausgelöst und deshalb unproportional reagiert, lässt
sich anhand der Rekonstruktion der Meldungen jenes Tages nicht bestätigen.
Unverständlich ist auch, wieso manche Agenturen heute von einer
"israelischen Offensive" schreiben, obgleich gemäß ihren eigenen Angaben ein
Raketenangriff der Hisbollah diesen Krieg ausgelöst hat.
Der Krieg eskalierte sehr schnell, zumal Israel noch am gleichen Morgen
Brücken im Libanon aus der Luft angriff und die Hisbollah schon am nächsten
Tag bewies, sogar die Hafenstadt Haifa mit Raketen beschießen zu können, die
sie niemals zuvor eingesetzt hat.
Von der ersten Minute dieses Waffengangs machte Israel klar, dass es keine
Raketenangriffe aus Libanon mehr hinnehmen wolle. Seit dem Rückzug im Mai
2000 gab es wiederholt Zwischenfälle dieser Art, auf die Israel jedoch mit
Zurückhaltung reagierte.
Weil Israel von den militärischen Vorbereitungen der Hisbollah wusste und
schon vor Jahren über die Lieferung tausender Raketen aus Iran und Syrien an
die Miliz geklagt hatte, ist verständlich, dass die israelische Armee
Angriffspläne und Ziellisten nur aus der Schublade hervorholen musste.
Hisbollah dürfte die heftige israelische Reaktion einkalkuliert haben. Die
schweren Kämpfe, die sich Hisbollah mit den Israelis lieferte und die
zahllosen für den Beschuss Israels bereitstehenden Raketen lassen den
Schluss zu, dass auch die Hisbollah diesen Krieg voraus geplant hat. |