BKA zum Tagebuch von Anne Frank:
Ende einer unseligen Legende
Wenn Antisemiten Anne Franks
Tagebuch verunglimpfen, bedienen sie sich gern eines "offiziellen"
Fälschungsindizes des Bundeskriminalamts - zuletzt nach der
Bücherverbrennung in Pretzien. Fachleute rätselten seit Jahren: Wann
stoppt das BKA diese Propaganda? Gestern nun hat die Behörde
reagiert
Von Astrid Geisler
Es sind Sätze, um die Wissenschaftler und
Politiker seit Jahren gekämpft hatten. Immer wieder. Stets
vergeblich. Auch in den Niederlanden rätselten Historiker: Warum
schweigt das Bundeskriminalamt so beharrlich? Warum lässt die
Behörde seit Jahren zu, dass Antisemiten gegen das "Tagebuch der
Anne Frank" agitieren - und sich dabei regelmäßig unwidersprochen
auf ein angebliches "offizielles" Fälschungsindiz aus dem BKA
berufen?
Noch gestern mutmaßte David Barnouw, einer der
bekanntesten Anne-Frank-Forscher vom Niederländischen Staatlichen
Institut für Kriegsdokumentation, auf Anfrage der taz: "Vermutlich
geht es auch darum, den Ruf eines Kollegen und des BKA zu schützen."
Wenige Stunden später ging das Bundeskriminalamt mit einer Erklärung
an die Öffentlichkeit. Die Botschaft: "Kriminaltechnisches Gutachten
von 1980 begründet keine Zweifel an der Echtheit der
Anne-Frank-Tagebücher".
Was bei Außenstehenden nur Schulterzucken hervorrufen dürfte, ist
für die Fachwelt eine kleine Sensation. Nach gut zwanzig Jahren
vergeblicher Bemühungen hatte mancher Wissenschaftler bereits die
Hoffnung aufgegeben, das Bundeskriminalamt könnte solche Worte noch
einmal öffentlich kundtun. Schließlich schaltete das BKA sogar nach
der Bücherverbrennung in Pretzien Ende Juni erst einmal auf stur.
Neonazis hatten das Tagebuch vor den Augen der Dorfbevölkerung bei
einer Sonnenwendfeier ins Feuer geworfen - angeblich mit den Worten:
"Alles Fälschung!" Wenig später zweifelte im Internet-Gästebuch des
Ortes ein anonymer Verfasser die Echtheit des weltberühmten
Zeitzeugnisses an und berief sich dabei auf das Gutachten des
Bundeskriminalamts. Das Berliner Anne Frank Zentrum erstattete
Strafanzeige. Die Staatsanwaltschaft Magdeburg leitete Ermittlungen
gegen den Anonymus ein. Das BKA blieb bei seiner Haltung: Es lehnte
erneut jede Stellungnahme zu dem unseligen Papier und seiner
Karriere in der rechten Szene ab.
Nun, mit einigen Wochen Verspätung und nach einer neuen öffentlichen
Intervention des Berliner Anne Frank Zentrums (die taz berichtete),
scheint auch den zuständigen Beamten in Wiesbaden klar geworden
sein: Dieser Kurs ist nicht länger tragbar.
So lief gestern Mittag um kurz vor zwei überraschend eine
Stellungnahme aus Wiesbaden über die Nachrichtenticker: Das
Gutachten, teilte die Behörde unter anderem mit, könne "nicht dafür
in Anspruch genommen werden, die Authentizität der Tagebücher der
Anne Frank in Zweifel zu ziehen. Das BKA distanziert sich
entschieden von allen in eine solche Richtung zielenden
Spekulationen."
Die Freude über diesen Schritt dürfte einige Kenner des Streits
vergessen lassen, dass sie sich eigentlich mehr gewünscht hätten.
Deutlichere Worte. Selbstkritik.
"Das BKA könnte nach so vielen Jahren sagen: Wir haben da Fehler
gemacht", hatte Barnouw im taz-Gespräch angeregt. Doch davon steht
in der umfänglichen Erklärung des Bundeskriminalamts kein Wort.
Barnouw weiß, wovon er spricht. Sein Forschungsinstitut in den
Niederlanden ist seit 1980 in Besitz der Anne-Frank-Manuskripte und
hat sich ebenfalls intensiv mit der Authentizität der Manuskripte
befasst. Als der Spiegel 1980 meldete, ein Gutachten des BKA ziehe
die Echtheit des Tagebuchs "weiter in Zweifel", staunten die
Fachleute im Nachbarland nicht schlecht. Weiter in Zweifel?
Fakt war: Dr. Werner, leitender wissenschaftlicher Direktor beim
BKA, hatte in einer Expertise notiert, bei seiner Untersuchung der
Tagebuch-Manuskripte seien ihm mehrere mit farbigem Kugelschreiber
verfasste Korrekturen aufgefallen - Kugelschreiber, der erst nach
dem Krieg auf den Markt gekommen war. Das sollte er den
niederländischen Fachleuten erklären.
Gut zwanzig Jahre sind seit dem Besuch des BKA-Mannes in Amsterdam
vergangen. David Barnouw hat die Begegnung nicht vergessen.
"Wir haben dem BKA-Mann gesagt: ,Bitte schön, hier sind die
Originale der Anne-Frank-Tagebücher - zeigen Sie uns, wo sehen Sie
Kugelschreiber?'" Barnouw schweigt einen Moment, dann lacht er
säuerlich. "Er hat sehr lange in dem Manuskript gesucht und
schließlich gesagt: Er findet nichts mehr. Er konnte sein eigenes
Gutachten nicht mehr erklären! Das war natürlich ziemlich peinlich
für einen wissenschaftlichen Sachverständigen."
Doch Bitten der niederländischen Kollegen, das Bundeskriminalamt
möge sich noch einmal öffentlich zu seinen Befunden äußern, blieben
ungehört. Im Laufe der Jahre fand das Gutachten aus Werners Feder
einen festen Kreis von Verehrern. Keinen, den er sich gewünscht
haben dürfte. Wenn Rechtsextreme das Tagebuch der Anne Frank als
Fälschung anprangerten, diente ihnen der "offizielle" Beleg des BKA
als bevorzugtes Argument. Wie zuletzt im Fall Pretzien.
Fachleute fragten sich: Wie lange würde das Bundeskriminalamt - das
selbst einen Stab von Mitarbeitern nach strafbaren Inhalten im
Internet fahnden lässt - dazu noch schweigen?
Als Leiter des Berliner Anne Frank Zentrums wird Thomas Heppener
regelmäßig direkt mit Fälschungsvorwürfen gegen das Tagebuch
konfrontiert. Heppener war längst überzeugt: Selbst wenn sich die
rechtsextreme Hetze nicht abstellen lässt, schon mit ein paar
klärenden Worten würde das BKA den Antisemiten zumindest einigen
Wind aus den Segeln nehmen können.
Diese Ansicht teilten viele, auch der frühere Bremer Bürgermeister
Hans Koschnick. Im Namen des Vereins "Gegen Vergessen" versuchte er
bereits vor etwa zwei Jahren, in dem Konflikt mit dem BKA zu
vermitteln. Es gab ein weiteres Treffen zwischen Kriminalbeamten aus
Wiesbaden und Amsterdamer Forschern. "Wir haben die Kollegen noch
einmal gebeten, das Gutachten aus der Welt zu schaffen", berichtet
der niederländische Wissenschaftler Barnouw - einmal mehr ohne den
erhofften Durchbruch.
Verwundert über die Zurückhaltung der Wiesbadener Behörde zeigte
sich auch der SPD-Bundestagsabgeordnete Niels Annen: "Eigentlich
hätte ich erwartet, dass das BKA hier einmal über seinen Schatten
springt - im Sinne des gemeinsamen Kampfes gegen Rechtsextremismus,
Antisemitismus und für unsere Demokratie."
Bis gestern hatte das BKA sein Schweigen mit Zuständigkeitsfragen
begründet: Das Gutachten zum "Tagebuch der Anne Frank" sei 1980 für
einen Prozess um Fälschungsvorwürfe am Hamburger Landgericht
angefertigt worden, es handele sich also um ein Auftragswerk. In
solchen Fällen äußere man sich grundsätzlich nachträglich nicht mehr
zu dem Inhalt einer Expertise. Dies sei vielmehr Sache des Gerichts.
Wirklich? Auf Nachfrage der taz mochte die Sprecherin des Hamburger
Landgerichts diese Einschätzung nicht bestätigen. Das Verfahren um
die Fälschungsvorwürfe gegen das Tagebuch sei längst rechtskräftig
abgeschlossen, ihr Haus habe die Akten inklusive Gutachten an die
Staatsanwaltschaft zurückgegeben. "Wir können das deshalb gar nicht
mehr kommentieren", entschuldigte sie. Wenn überhaupt jemand, dann
sei inzwischen die Hamburger Staatsanwaltschaft dafür zuständig. Die
Hamburger Staatsanwaltschaft?
In den Niederlanden mochte man nicht glauben, dass es wirklich
ungeklärte Zuständigkeiten waren, die seit Jahren offene Worte der
deutschen Seite gegen antisemitische Angriffe auf das Tagebuch
verhinderten. Anne-Frank-Forscher Barnouw vermutete vielmehr, das
BKA scheue das Thema. Die Studie zur Echtheit des Tagebuchs sei
schließlich "absolut unwissenschaftlich".
Wer sich das viel zitierte BKA-Papier durchliest, versteht, was der
Forscher meint. Die Expertise umfasst gerade vier
Schreibmaschinenseiten - und ist inhaltlich überraschend
nichtssagend.
Wie vom Hamburger Gericht angefordert, befasste sich der
Sachverständige des BKA 1980 mit der Frage, ob mittels Papier- und
Stift-Analysen auszuschließen sei, dass die Manuskripte aus der Zeit
zwischen 1941 und 1944 stammen. Nicht mehr und nicht weniger. Dabei
fand Werner laut seinen Worten auf einzelnen Blättern "nachträglich"
angefertigte "Korrekturschriften", zum Teil "mittels schwarzer,
grüner und blauer Kugelschreiberfarbpaste niedergeschrieben" - einer
Farbpaste, die erst 1951 auf den Markt kam, also als Anne Frank
bereits im KZ Bergen-Belsen ums Leben gekommen war.
Der Fachmann hielt allerdings weder fest, was diese Korrekturen
beinhalteten, noch wie umfangreich sie waren oder an welchen Stellen
des Manuskripts er sie entdeckt hatte. Er ging auch nicht der Frage
nach, ob sie etwa im Zuge der Veröffentlichung nach dem Krieg von
fremden Händen eingefügt worden waren - durchaus naheliegend,
schließlich wurde das Manuskript stark bearbeitet, bevor es als Buch
in den Handel kam. Die Handschrift des Teenagers spielt in seiner
Analyse keine Rolle.
Werner arbeitete unter schwierigen Bedingungen - Bedingungen, für
die er zum Teil nichts konnte: Otto Frank, der Vater von Anne Frank,
der als Einziger der Familie die Deportation nach Auschwitz-Birkenau
überlebt hatte, wollte die Schriften seiner Tochter bis zu seinem
Tod 1980 nicht aus der Hand geben. Der BKA-Sachverständige musste
deshalb in die Schweiz reisen und die Originale dort im Gemeindehaus
von Birsfelden untersuchen, zwei Tage hatte er Zeit. Sein
Arbeitsgerät dort: ein Mikroskop und eine Ultraviolett-Lampe. Zwar
konnte er einige Proben mit nach Wiesbaden nehmen. Aber Werner
sprach nach Angaben der niederländischen Seite kein Holländisch -
was die Auswahl zusätzlich erschwert haben dürfte.
Als das Hamburger Landgericht nach jahrelangem Prozess 1990 sein
Urteil im Rechtsstreit um das Tagebuch fällte, lag ihm neben dem
BKA-Gutachten auch eine Untersuchung des Gerichtslaboratoriums des
niederländischen Justizministeriums vor.
In der schriftlichen Urteilsbegründung ist nachzulesen, dass Werner
auch dem Gericht nicht erklären konnte, von welchen
Kugelschreiber-Korrekturen in seinem Papier konkret die Rede war. Er
habe vielmehr berichtet, dass er die Stellen bei seiner zweiten
Durchsicht der Manuskripte in den Niederlanden nicht wiederfand. Für
Zweifel an der Echtheit der Originale sah die Kammer daher keinen
Anlass. Ihr Fazit: "Die Originale sind durch viele Hände gegangen.
Es wäre durchaus möglich, daß jemand bei der Vorbereitung der
Veröffentlichung der Texte ein oder mehrere Worte über Originalworte
geschrieben hat. Es mag auch sein, daß der Sachverständige Dr.
Werner, der in die Schweiz nicht alle neuesten Untersuchungsgeräte
mitgenommen hatte, einem Irrtum unterlag."
Ein Irrtum? Von diesem Verdacht steht in der Erklärung des BKA
nichts. Zu den vom BKA-Sachverständigen festgestellten
"Korrekturschriften" in Nachkriegstinte bemerkt die Behörde:
"Offenbar handelt es sich dabei um nachträglich vorgenommene
redaktionelle Anmerkungen bzw. Korrekturen eines weiteren
Bearbeiters."
Eine schlechte Nachricht für alle Rechtsextremen, die seit Jahren
die Legende um das BKA-Gutachten politisch ausschlachteten. Eine
gute Nachricht aber für alle anderen.
taz vom 27.7.2006
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