Kriegsalltag:
Für den Fußball aus dem Bunker
Im Norden Israels herrscht seit einem
Monat Ausnahmezustand. Der Druck auf Minsterpräsident Olmert wächst.
Von Andrea Livnat, Tel Aviv
Jungle World
33 v. 16.08.2006
Die Pubs in Haifa waren zum ersten Mal seit langer Zeit
wieder gut besetzt. Der Grund dafür war jedoch nicht etwa ein Ende der
Gefahr durch Raketenbeschuss, sondern das Hinspiel von Maccabi Haifa gegen
den FC Liverpool. Nur Fußball hatte die nötige Anziehungskraft, um die
Bewohner der Hafenstadt am Mittwoch der vergangenen Woche aus den Bunkern
und Schutzräumen zu locken. Belohnt wurde dies übrigens nicht, Liverpool
siegte mit 2:1.
Der Abend dürfte eine willkommene Abwechslung im Kriegsalltag gewesen sein.
Seit einem Monat herrscht für etwa eine Million Israelis der
Ausnahmezustand. Wer geblieben ist, sitzt im Bunker, manchmal den ganzen
Tag. Über 3500 Raketen sind seit Kriegsbeginn in Israel eingeschlagen, da
ist jedes Luftschnappen, jedes Zögern risikoreich. So starb ein junger
Familienvater, als er den Bunker noch mal kurz verließ, um für das Baby eine
Decke zu holen. In dem arabischen Dorf Dir al-Assad starben eine Mutter und
ihr fünfjähriger Sohn, weil sie das Haus kurz verlassen hatten, um eine
Zitrone zu pflücken. Genau in diesem Moment schlug eine Katjuscha im Hof
ein.
Wer nicht im Bunker sitzen will, wer seine Kinder und sich selbst nicht der
ständigen Bedrohung und deren psychologischen Langzeitschäden aussetzen
will, ist auf der Flucht. Mehrere hunderttausend Bewohner aus dem Norden
sind nach Tel Aviv und weiter in den Süden geflüchtet, bevölkern Hotels,
Campingplätze, Städte, Straßen, Strände und lassen das sowieso schon kleine
Land noch überfüllter wirken als sonst. Sie treffen dabei auf eine große
Solidarität, denn man rückt enger zusammen.
Für die im Norden Gebliebenen werden Sammlungen organisiert, Spenden und
Essensrationen geschickt, Sonderdienste von Banken und Krankenkassen
eingerichtet. Im ganzen Land sind Durchhalteparolen plakatiert, sogar in den
Anzeigen des Verkehrsleitsystems heißt es: "Bürger aus dem Norden, wir sind
mit euch!" Viele haben Unterkunft bei Privatpersonen gefunden, denn einen
mehrwöchigen Hotelaufenthalt, auch zu Sonderkonditionen, kann sich nicht
jeder leisten. Und Urlaubsgefühl mag natürlich trotzdem nicht aufkommen.
Auch am Strand von Tel Aviv erinnern ständig vorbeifliegende
Kampfhubschrauber an die Wirklichkeit.
Stanley Fischer, Chef der Notenbank, warnte vor den langfristigen Folgen,
eine weitere Fortführung der Kämpfe könnte Israels Wirtschaft schwere
Schäden zufügen. Bereits jetzt sind Verluste in Milliardenhöhe zu
verzeichnen, durch ein verringertes Bruttosozialprodukt, weniger
Steuereinnahmen und geringere Einkünfte aus der Tourismusindustrie. Daneben
belastet der Krieg selbst die öffentlichen Kassen, und die Entschädigungen,
die die Regierung auszahlen muss, werden auf zwei bis drei Milliarden Shekel
geschätzt.
Auch einen Monat nach Beginn der Kämpfe war die Hizbollah noch in der Lage,
Raketen abzuschießen. Wie lange soll und kann es aber so weiter gehen? Was
ist mit all jenen, die festsitzen, weil sie keine Verwandten im Süden haben,
keine Möglichkeit, sich in einem Hotel einzuquartieren, vor allem alte
Leute, unter ihnen viele Überlebende der Shoah? Der Druck auf
Ministerpräsident Ehud Olmert wächst.
"Chuzpe hat ihre Grenzen", heißt es in der Wochenendausgabe von Ha’aretz.
Olmert, wohl ahnend, dass der Kommentator mit seiner Forderung, der
Ministerpräsident müsse zurücktreten, nicht mehr allein ist, hat nun eine
Ausweitung der Bodenoffensive angeordnet. Die wirklich schwere Zeit für
Israels Ministerpräsidenten, wer auch immer diesen Posten bekleidet, wird
erst nach dem Waffenstillstand beginnen. Dann nämlich, wenn dafür Sorge zu
tragen ist, dass die israelische Bevölkerung nicht mehr von Raketen aus dem
Libanon und aus dem Gaza-Streifen bedroht wird.
hagalil.com
17-08-2006 |