Krise oder Krieg:
Ausweglose Lage in Nahost
von Ulrich W. Sahm, Jerusalem, 16. Juli 2006
Der Streit, ob der israelisch-libanesische
Schlagabtausch nur eine Krise oder aber Krieg sei, ist Wortklauberei. Israel
legt den Libanon in Schutt und Asche. Die Hisbollah jagt über eine Million
Israelis unter die Erde in die Luftschutzkeller oder in die Flucht in den
Süden. Über 1400 Raketen aus Libanon explodierten innerhalb von fünf Tagen
in Israel, verursachten hunderte Verletzte und über 20 Tote. Die Hisbollah
verheimlicht ihre Opfer. Deshalb ist die Zahl von etwa 100 Toten im Libanon
zu tief gegriffen.
Im Frühjahr 1991 landeten in Israel 26 Scud-Raketen aus Irak und töteten
einen einzigen Israeli. Die ganze Bevölkerung saß drei Wochen lang mit
Gasmasken in "abgedichteten Zimmern". Das war "Krieg".
Die Welt ist verwirrt. Erstmals gingen die arabischen Außenminister in Kairo
ohne Abschlusserklärung auseinander. Die Saudis forderten eine Verurteilung
der Hisbollah. Sie habe eigenwillig die Zerstörung des Libanon durch Israel
provoziert. Dahinter steckt saudische Angst vor iranischen Machtansprüchen.
Ägypten schweigt betreten zur Versenkung eines Frachters durch eine
Hisbollah-Rakete iranischer Bauart.
Die Europäer sind geteilter Meinung. Hisbollah provozierte den Krieg aber
Israel reagiert "unangemessen". Amerikanische Aufrufe zur "Mäßigung"
verhallen, während im Libanon die mühselig aufgebaute Infrastruktur
systematisch zertrümmert wird, und Israels Norden einem präzedenzlosen
Bombardement ausgesetzt ist. Großstädte wie Haifa und die strategisch
wichtige petrochemische Industrie werden von einer Terrororganisation in
Schach gehalten.
Wegen diesem globalen Zwiespalt ist kein Machtwort in Sicht, das dem
plötzlich ausgebrochenen Spuk ein Ende setzen könnte. Die Amerikaner sind
desinteressiert, die Europäer gespalten und manche Araber fürchten, durch
eine Verurteilung der Hisbollah als Komplizen Israels dazustehen.
Gleichwohl könnte dieser Krieg auf einen Schlag beendet werden. Zum Glück
ist es vorläufig ein Krieg auf Knopfdruck. Ein kleiner Befehl könnte
israelische Piloten und die Hisbollah-Raketenschützen stoppen. Potentielle
Vermittler müssten Israel und die Hisbollah überzeugen, die gegenseitige
Zerstörung einzustellen. Mangels Einmarsch müssten nicht einmal territoriale
Fragen ausgehandelt werden. Der Libanon dürfte, anders als die
Palästinenser, eine Schmerzgrenze besitzen, wie viel Zerstörung seiner
Infrastruktur hinnehmbar ist für das ausdrückliche Kriegsziel der Hisbollah:
Die Befreiung "unserer" Gefangenen aus israelischen Gefängnissen. So hatte
es Hassan Nasrallah gesagt.
Die Hisbollah sitzt mit zwei Ministern in der libanesischen Regierung. Aber
dieser Minipartner bestimmt das Schicksal des ganzen Zedernstaates. Israel
kann auf Dauer nicht den Ausnahmezustand für zweidrittel seiner Bevölkerung
hinnehmen und wird wohl noch härter zuschlagen. Andererseits ist dies nicht
nur ein lokales Geplänkel zwischen Israel und einer libanesischen Miliz.
Gewichtige Mächte stecken hinter einem Machtkampf in der Welt des Islam:
Iran, Syrien und Moslembrüder einerseits, die konservativen Regime von Saudi
Arabien, Jordanien und Ägypten andererseits. Israel dürfte kaum die Kraft
haben, den Kampf dieser beiden Mächte im Islam zu entscheiden. Aber das
geringere Vorhaben Israels, jeglichen "Terroristen" zu zeigen, dass sich
Attacken auf Israel, aus welchen ideologischen Gründen auch immer, nicht
auszahlen, könnte schon eher gelingen.
Der Preis ist allerdings hoch, wie man an der rücksichtlosen Zerstörung der
Infrastruktur im Libanon sehen kann, während gleichzeitig alle Bewohner
Israel - von Tel Aviv nordwärts - mit Raketenbeschuss rechnen müssen.
Auch in der arabischen Welt gerät die Hisbollah inzwischen in die Kritik.
Der offizielle, von Hisbollahchef Nasralla genannte Kriegsgrund war allein
die "Befreiung unserer Gefangenen aus israelischen Gefängnissen". Dieses
Ziel hat er noch lange nicht erreicht, aber der ganze Libanon brennt "und
wird weiter brennen", wie die israelische Militärsprecherin verkündete.
© Ulrich W. Sahm / haGalil.com |