Palästinenser im Libanon:
50 Jahre Einsamkeit
Die Palästinenser in den Flüchtlingslagern
von Beirut und Sidon kommen in keinem Friedensplan vor. Jetzt haben sie
begonnen, um mehr Bürgerrechte im Libanon zu kämpfen.
Von Marina da
Silva
Le Monde diplomatique v. 07.07.2006
Der Libanon durchläuft eine Phase politischer
Destabilisierung. Die neueste Zuspitzung brachte ein Attentat im
südlibanesischen Sidon, bei dem am 27. Mai 2006 Abu Hamsa (Mahmud
al-Madschdhub), ein Kommandeur des palästinensischen Islamischen Dschihad,
und sein Bruder Nidal getötet wurden. Die Aktion wurde dem israelischen
Geheimdienst zugeschrieben. Am nächsten Tag bombardierten israelische
Kampfflugzeuge Ziele in der Bekaa-Ebene und nahe Beirut -
Vergeltungsaktionen für die Raketen, die am selben Tag einen israelischen
Militärstützpunkt getroffen hatten und die Ahmed Dschibrils "Volksfront zur
Befreiung Palästinas-Generalkommando" (PFLP-GC) und der Hisbollah
zugeschrieben wurden.
Es waren die schwersten Angriffe, die Israel seit seinem Rückzug aus der
besetzten Grenzzone im Südlibanon Ende Mai 2000 geflogen hat. Die Ereignisse
sorgten für neue Debatten über die Entwaffnung der Hisbollah und der
Palästinenser. Die Politik begann sich auf einmal wieder für die
Palästinenser aus dem Libanon zu interessieren, die hier überwiegend noch
immer in Flüchtlingslagern leben und offenbar von allen vergessen wurden,
weil man sie bisher bei allen Verhandlungen übergangen hatte. Jetzt wollen
sie ihre Chance nutzen, sich erneut für ihr Recht auf die Rückkehr nach
Palästina stark zu machen - ein Anspruch, den sie nie aufgegeben haben.
Khadda lebte bis vor kurzem in dem Flüchtlingslager Ain al-Hilweh.(1) Sie
empört sich über das Image, das den palästinensischen Flüchtlingslagern im
Libanon zugeschrieben wird: "Sie - und besonders Ain al-Hilweh -( )werden in
der libanesischen und der internationalen Presse häufig so dargestellt, als
würden hier nur Kriminelle und islamische Extremisten das Sagen haben. Mehr
als 45 000 Menschen leben hier im Lager. Wir wollen einfach nicht vergessen,
woher wir kommen und wer wir sind. Man darf uns doch nicht mit den
vielleicht zweihundert Verrückten hier in einen Topf werfen. Die sind doch
auch nur Opfer." Khadda hat die täglichen Spannungen und bewaffneten
Auseinandersetzungen im größten Flüchtlingslager des Libanon, das am
Stadtrand von Sidon liegt, nicht mehr ausgehalten. Inzwischen hat sie sich
eine Wohnung außerhalb des Lagers gesucht, obwohl das für ihre Familie eine
große Belastung bedeutet: Ihr Mann betreibt weiterhin seinen Laden im Lager,
die gemeinsamen Kinder sind an jedem Wochenende beim Vater. Doch mehr als
die Konflikte im Lager bedrückt Khadda die Armut. Ain al-Hilweh ist ein
Elendsquartier aus ärmlichen Behausungen und engen, verdreckten Gassen. Hier
haben die Islamisten ein leichtes Spiel.
Symbolischer Aufbau einer palästinensischen Gesellschaft
Mit dem Einmarsch der israelischen Truppen in den Libanon trat 1982 eine
Wende ein. Nach dem Angriff auf das Hauptquartier der PLO in Beirut, hatte
sich Arafat mit seinen Gefolgsleuten nach Tunis geflüchtet. Bis dahin war
die PLO nicht nur der wichtigste Arbeitgeber für die Flüchtlinge gewesen -
fast 65 Prozent der Palästinenser arbeiteten für die PLO. Die 1964
gegründete Befreiungsorganisation finanzierte auch Einrichtungen im
Gesundheits- und Bildungswesen, die nicht Palästinenser, sondern auch arme
Libanesen versorgten. Seit den 1980er-Jahren fühlen sich die
palästinensischen Flüchtlinge aus dem Libanon immer wieder übergangen. Bei
den Oslo-Verträgen von 1993 handelte die PLO ihre Vereinbarungen mit Israel
nur für den Gaza-Streifen und das Westjordanland aus. Die Gelder der
internationalen Geberländer flossen nur in die Projekte des
UN-Flüchtlingshilfswerks für Palästina (UNWRA)2. Dagegen wurden die Mittel
der UN-Unterorganisationen und der NGOs, die für die Flüchtlinge im Libanon
zur Verfügung stehen sollten, mit der Zeit drastisch gekürzt. So schotteten
sich die Lager, die schon unter dem Bürgerkrieg und der wirtschaftlichen
Misere gelitten hatten, immer mehr ab.
Das Elend eröffnete den islamistischen Gruppen, vor allem dem Islamischen
Dschihad und der Islamischen Widerstandsbewegung (Hamas) eine Chance. Sie
konnten die Ärmsten unter den Palästinensern durch materielle Zuwendungen
für sich gewinnen. Vor allem die Hamas wusste die allgemeine Empörung zu
nutzen, als im Dezember 1992 die Israelis 415 palästinensische
Hamas-Anhänger in den Südlibanon deportierten. Eine ähnliche Wirkung hatte
die israelische Politik der "außergerichtlichen Hinrichtungen", der im März
2004 der Hamas-Führer Scheich Jassin und einen Monat später sein Nachfolger
Abdelasis Rantisi zum Opfer fielen. Die Bilder dieser Märtyrer hängen noch
heute überall an den Wänden.
Auch der Wahlsieg der Hamas im Januar 2006 hat ihren Einfluss im Libanon
verstärkt. Umm Fadi, eine Sympathisantin der PFLP, hat das Ergebnis dieser
Wahl überrascht ("wie alle hier"), aber auch höchst zufrieden zur Kenntnis
genommen. Sie sieht es als Votum "gegen die Korruption und für die Rechte
der Palästinenser, einschließlich des Rechts auf Rückkehr". Umm Fadis Kinder
sind in Ain al-Hilweh geboren. Damals vollzog sich in den Lagern der
symbolische Aufbau einer palästinensischen Gesellschaft im Exil. Daran
erinnert kaum noch etwas: "Heute werden die Menschen von den politischen
Fraktionen praktisch in Geiselhaft genommen, die hier ihre gegenseitigen
Rechnungen begleichen. Immer wieder gibt es Tote. Die Menschen haben Angst.
Aber sie wollen das Lager nicht verlassen, weil es ein Symbol ist für die
Hoffnung auf Rückkehr und den Kampf für unsere Rechte." Das jüngste in einer
langen Reihe von Attentaten war am 1. Mai die Ermordung eines
Fatah-Mitglieds durch einen Kämpfer der Usbat al-Ansar (Bund der
Partisanen), einer salafistischen Islamistengruppe, der Verbindungen zur
al-Qaida nachgesagt werden.(3 )Solche Konflikte haben politischen wie auch
kriminellen Hintergrund. Oft geht es dabei nicht nur um
innerpalästinensische Auseinandersetzungen. Vielmehr mischen auch diverse
staatliche Geheimdienste mit, die an einer Verschärfung der Spannungen
interessiert sind. Schließlich ist Ain al-Hilweh noch immer ein politisches
Symbol, eine Art Hauptstadt der Palästinenser im Exil, in der jede
palästinensische Partei eine Filiale unterhält.
"Die Situation ist schwierig", erklärt Abu Ali Hassan, der frühere Leiter
von Ain al-Hilweh. Heute kümmert er sich in Beirut in dem kleinen Lager Mar
Elias, wo vorwiegend christliche Palästinenser leben, um die Beziehungen zu
den libanesischen politischen Parteien. "In der libanesischen Politik spielt
die Entwaffnung der palästinensischen Gruppen, wie sie in der von Frankreich
und den USA im September 2004 eingebrachten UN-Resolution 1 559 gefordert
wird, eine wichtige Rolle.(4 )Die Regierung der Nationalen Einheit in Beirut
hat einen Ausschuss eingesetzt, der Gespräche über die Auflösung
militärischer Positionen außerhalb der Lager und über Regeln für den
Waffenbesitz innerhalb der Lager führen soll. Wir bemühen uns, eine
gemeinsame Verhandlungsdelegation zu bilden. Die Entwaffnung darf nicht nur
unter sicherheitspolitischen Aspekten laufen, sie muss zur Stärkung unserer
politischen Rechte und zur Verbesserung der Lebensbedingungen in den Lagern
führen."
Die PLO konnte am 16. Mai 2006, 24 Jahre nach ihrem Abzug ins tunesische
Exil, in Jenah am Stadtrand von Beirut erstmals wieder eine Vertretung im
Libanon eröffnen. Der Leiter des Büros, der Fatah-Politiker Abbas Saki,
wertet dies als deutliches politisches Signal. "Die Regierung will in dieser
Frage behutsam vorgehen. Probleme gibt es vor allem mit bewaffneten
Palästinensern in etwa einem Dutzend Stützpunkten in der Bekaa-Ebene und in
dem Küstenort Nahmé, 15 Kilometer südlich von Beirut gelegen."
Berufsverbot für Ärzte und Architekten
Angesichts dieser heiklen Lage hatte man für die Äußerungen von
Palästinenserpräsident Mahmud Abbas wenig Verständnis: Er hatte bei seinem
Besuch in Paris im Oktober 2005 erklärt, die Palästinenser im Libanon
sollten sich "an die Gesetze halten", schließlich seien sie nur "Gäste" im
Land. In libanesischen Zeitungen wird regelmäßig über das Einsickern
palästinensischer Kämpfer aus Syrien berichtet. Die libanesische Armee hat
bereits im Osten der Bekaa-Ebene etwa 40 illegale Grenzübergänge geschlossen
und erhöht ihren Druck auf die dortigen Stützpunkte prosyrischer
Palästinenserorganisationen, die von Damaskus aus gesteuert werden. Das sind
u. a. die PFLP-GC, die Fatah-Intifada (eine Abspaltung der Fatah unter
Führung von Abu Mussa) und die al-Saika (der palästinensische Flügel der
syrischen Baath-Partei).
"Weil wir den bewaffneten Widerstand gegen Israel angeführt haben und immer
noch aktiv und einflussreich sind, gelten wir als Friedenshemmnis", erklärt
Nabil, Sprecher des Volkskomitees im Lager Baddaui, unterhalb von Tripoli.
Dieses Lager im Norden, weitab von der Konfliktzone, wirkt friedlich: Hier
stehen die Häuser nicht so eng, die Straßen sind sauber, die Kanalisation
intakt. Doch für Nabil bleibt der Krieg eine ständige Bedrohung:
"Israelische Flugzeuge überfliegen nach wie vor ungehindert den ganzen
Libanon - von Süden nach Norden und Norden nach Süden." Und: "Wir werden
Sabra und Schatila nie vergessen: Damals wurden wir unter den Augen der
internationalen Schutztruppen abgeschlachtet. Die Waffen in den Lagern
brauchen wir für unsere Selbstverteidigung."(5)
Bei der Debatte um die Waffen wird ganz vergessen, danach zu fragen, wie es
um die Lebensbedingungen der Palästinenser steht. Nach Angaben des
Flüchtlingshilfswerks UNRWA vom März 2006 leben etwa 404 000
palästinensische Flüchtlinge im Libanon, 220 000 von ihnen in Lagern, die
über das ganze Land verteilt sind. In Beirut sind das Mar Elias, Burdsch
al-Baradschneh, Sabra und Schatila, und Dbaye; im Süden, Ain al-Hilweh und
Mie Mie in der Nähe von Sidon und al-Buss, Raschidije, Burdsch al-Schemalhe
bei Tyre, im Norden Nar al-Bared und Baddaui bei Tripoli; in der Bekaa-Ebene
schließlich Waweel. Weiterhin gibt es eine Reihe von kleinen illegalen
"Sammellagern", das sind Palästinensersiedlungen, die von der UNRWA nicht
anerkannt sind und keine Unterstützung erhalten.
Die libanesische Armee hat um alle Lager Stellung bezogen, vor allem um die
vier großen im Süden, in denen etwa 100 000 Flüchtlinge leben. Hier werden
alle Zugänge kontrolliert. Man braucht immer einen Passierschein. Nach wie
vor hat in den Lagern des Südens die Fatah das Sagen, während in den Lagern
von Beirut, im Norden und in der Bekaa-Ebene die prosyrischen Gruppen ihren
Einfluss behauptet haben. Doch überall wächst der Einfluss der Islamisten.
Beobachter stellen fest, dass die Hamas inzwischen genauso viele Anhänger
hat wie die Fatah.
Laut Statistiken der UNRWA leben von den palästinensischen Flüchtlingen 60
Prozent unter der Armutsgrenze, 70 Prozent sind arbeitslos. Bislang ist
ihnen die Ausübung von insgesamt 72 Berufen außerhalb der Lager untersagt,
zudem dürfen sie kein Baumaterial ins Lager bringen. Für Aus- und
Wiedereinreisen braucht jeder Palästinenser ein Visum, dessen Ausfertigung
bis zu sechs Monate dauert.
Im Juni 2005 hat der libanesische Arbeitsminister Trad Hamadé, ein
Sympathisant der Hisbollah, in einer Denkschrift die Aufhebung einiger
Berufsverbote für diejenigen Palästinenser vorgeschlagen, die im Libanon
geboren und beim Innenministerium registriert sind. Nicht auf der Liste sind
die akademischen Berufe, das heißt Ärzte, Rechtsanwälte oder Architekten
dürfen ihr erlerntes Metier immer noch nicht ausüben. Und mit keinem Wort
erwähnt die Denkschrift die 2001 beschlossenen neuen Rechtsvorschriften, die
Palästinensern den Erwerb von Häusern oder Grundstücken im Libanon
verwehren. Diese Regelung führte, vor allem in Erbschaftsfragen, zu vielen
juristischen Streitigkeiten.
Samira Salah leitet die Abteilung für Flüchtlingsfragen bei der PLO und
leitet auch die Kampagne für die Rechte der Palästinenser im Libanon. Damit
ist vor allem das Recht auf Rückkehr gemeint, das ihnen die
UN-Vollversammlung in der Resolution 194 von 1948 zugesichert hat. Sie hält
die Initiative des libanesischen Arbeitsministers zwar für einen
Fortschritt, glaubt aber nicht an spürbare praktische Veränderungen: "Schon
1995 gab es einen Vorschlag, dass jeder im Libanon geborene Palästinenser
das Recht auf Arbeit haben sollte - sofern er über eine Arbeitserlaubnis
verfügt. Aber diese Papiere sind praktisch nicht zu bekommen. Und im neuen
Vorschlag des Ministers ist auch nicht die Rede von Renten- und
Krankenversicherung."
Die Kampagne für die Rechte der Palästinenser läuft seit April 2005 und wird
von zahlreichen Organisationen getragen. Neben 25 palästinensischen
Vereinigungen, dem Palästinensischen Nationalrat und dem Flüchtlingsbüro der
PLO sind auch viele Persönlichkeiten der palästinensischen
"Zivilgesellschaft" mit von der Partie. Man will untereinander eigene
Denkansätze und Organisationsmodelle entwickeln, um die Unterstützung der
libanesischen Bevölkerung zu gewinnen und politischen Druck von unten
aufzubauen. Die Parole lautet: "Bürgerrechte bis zur Rückkehr - wehren wir
uns gemeinsam mit den Libanesen gegen Einbürgerung und Ansiedlung der
Flüchtlinge."
Die vier Hauptforderungen für eine solche Übergangslösung lauten: Recht auf
Arbeit, Recht auf Eigentum, Vereinigungsfreiheit und Recht auf Sicherheit.
All das ist nichts Neues, und bislang sind solche Forderungen immer ohne
Echo geblieben.
Die Anzahl der Flüchtlinge, die nach Gründung des Staates Israel zu
Hunderttausenden ins Exil getrieben wurden, liegt heute bei 4 Millionen -
das sind fast 60 Prozent der palästinensischen Bevölkerung. 90 Prozent
dieser Flüchtlinge leben heute in den Autonomiegebieten und in den
arabischen Nachbarstaaten. Die Lage der Palästinenser im Libanon(6) lässt am
klarsten erkennen, wie groß die ungelösten politischen Probleme sind.( )Die
Flüchtlingsfrage darf jedenfalls auf keinen Fall mehr ausgeklammert werden
bei den Bemühungen um ein Ende des israelisch-arabischen Konflikts.
Fußnoten:
(1) Siehe Isabelle Dellerva, "Les camps palestiniens au Liban, zones de
non-droit", Libération, 18. Mai 2006.
(2) Das UN-Hilfswerk für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten wurde im Mai
1950 geschaffen, um eine Grundversorgung der ins Westjordanland und in den
Gaza-Streifen, nach Jordanien, Syrien und in den Libanon geflüchteten
Palästinenser zu gewährleisten.
(3) Siehe dazu Bernard Rougier, "Le Jihad au quotidien", Paris (PUF) 2004;
siehe auch das Interview mit Claire Moucharafieh, in: Pour la Palestine, Nr.
43, 3. November 2004.
(4) Siehe dazu Alain Gresh, "Libanons Demokratie ohne Demokraten", Le Monde
diplomatique, Juni 2005.
(5) Dabei geht es um leichte und mittelschwere Waffen; alle schweren Waffen
wurden bereits im Jahr 1989 den zuständigen libanesischen Stellen übergeben.
(6) Siehe dazu die ausgezeichnete Arbeit von Mohamed Kamel Boraï, "Les
réfugiés palestiniens du Liban, une géographie de l'exil", Paris (CNRS
éditions) 2006.
Aus dem Französischen von Edgar Peinelt
Marina da Silva ist Journalistin.
© Le Monde diplomatique, Berlin |