Legitime Kritik:
Israelbashing
Editorial von Yves Kugelmann, tachles, 07.07.2006
Selektive Wahrnehmung. Oft gehört und dennoch nochmals
nachgehakt: Es gibt gute Gründe, Israels Politik und Agitation der
militärischen Stärke zu kritisieren. Mit denselben guten Gründen müsste die
internationale Gemeinschaft, das Schweizer Aussenministerium, der
Menschenrechtsrat der Uno zugleich überall dann zur Stelle sein, wo die
Rechte der Zivilbevölkerung verletzt werden. Wenn in Darfur Menschen
tagtäglich dahingemetzelt werden, in Tschetschenien russische Staatsgewalt
betrieben oder abseits der öffentlichen Wahrnehmung in Afrikas Diktaturen
und arabischen Regimes Menschen ermordet, gefoltert und sekündlich
Grundrechte verletzt werden, dann fällt auf, dass der Nahost-Konflikt alle
anderen Konflikte überlagert. Das mag erklärbar, doch dann nicht richtig
sein, wenn es nicht um einen ideologischen Krieg, sondern um die
glaubwürdige Wahrung von Menschenrechten gehen soll. Nicht, weil Israel
ungerechtfertigterweise kritisiert wird, sondern weil die einseitige Kritik
an Israel als unglaubwürdig und ideologisch motiviert entlarvt wird und der
palästinensischen Sache schadet. Das beginnt derzeit auf der Strasse, wo
sich seit Israels Einmarsch in Gaza wieder ein antiisraelischer Aktivismus
breit macht, wie er nach Ausbruch der zweiten Intifida losging, und der
schliesslich in internationalen Organisationen endet. So etwa gestern
Donnerstag im neuen Uno-Menschenrechtsrat, der als erste Resolution seit
seiner Neugründung eine gegen Israel verabschiedete.
Zusammenhänge. Die Erkenntnis allerdings, dass die bald 40-jährige
Besatzung und der noch länger dauernde Kampf palästinensischer Gruppen mit
dem Versuch, Israel zu vernichten, derart verhärtete Positionen etabliert
hat, die kaum mehr Kompromisse oder gar Verhandlungen ermöglichen, ist nicht
neu. Ebenso alt ist aber der andere Blick auf den Konflikt. Als im Jahre
1975 der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt zu einer
Vortragsreise nach Israel aufbrach, formulierte er auf und nach der Reise
Essays über Israel, die heute aktueller denn je sind und eine Dialektik
etablieren, die gleichsam die Lösungsrichtung des Konflikts vorgeben.
"Zusammenhänge" heisst das Buch und ist ein fulminantes Feuerwerk an
Überlegungen, Betrachtungen und historischer sowie religionsphilosophischer
Aufarbeitung, die aus dem determinierten Diskussionsschema ausbricht:
"Schämte man sich nach dem Zweiten Weltkrieg, Antisemit zu sein, wurde man
mit Stolz nach dem Sechstagekrieg Philosemit, wagt man nun erleichtert nach
dem Jom-Kippur-Krieg, Antizionist zu werden. Kein Mensch ist heute
Antisemit, man versteht nur die Araber." Dürrenmatt spricht vom
Bruderkonflikt und kommt zum Schluss, dass da eine paradoxe und eigenwillig
dialektische Symbiose besteht, die wesentlich ist mit Blick auf eine
existenzfähige Zukunft: "Sie [die Palästinenser] hatten nie einen Staat. Sie
haben nie gehabt, was sie jetzt wollen auf Grund dessen, was die Juden
wollten, weil diese es mussten: einen Staat; und was die Palästinenser jetzt
haben, wollen sie nicht, denn es ist nichts, was sie haben. Sie jagen einer
Ideen nach: das zu sein, was Israel ist. Das können sie nur, wenn sie wie
Israel werden. Dazu braucht es Zeit, und Zeit ist identisch mit Frieden,
denn ihre Existenz ist nur durch die Existenz Israels möglich, geht Israel
unter, ist es ihr Untergang: Sie können auch von den ‹Arabern› jederzeit
fallengelassen werden. Sie werden Syrer, Ägypter oder Jordanier, je nach
Ausgang der Kämpfe, die dann unter Arabern entbrennen, gesetzt, die Araber
besiegen Israel. Die Existenz des jüdischen Staates bekommt damit den
politischen Sinn, den Palästinensern zu ihrem Recht zu verhelfen: zu ihrem
Staat. So klein dieser Landstrich ist, den wir Palästina nennen, ein Nichts
auf dem Globus, er hat Platz für zwei Staaten, wie er Platz für viele
Kulturen hat. Das setzt voraus, dass die Palästinenser den jüdischen Staat
anerkenn und die Juden den palästinensischen."
Glaubwürdigkeit. Die Kritik an Israel ist nicht weniger legitim als
der Hinweis darauf, dass Israel für vieles herhalten muss, mit dem Israel
und der Konflikt wenig bis gar nichts zu tun haben. Wenn die Israelkritik
glaubwürdig sein will, dann müssen Kritiker Israel nicht zum singulären
Thema heraufstilisieren, sondern mit Kompetenz immer dort vorstellig werden,
wo Menschen- und Grundrechte verletzt werden. Die Kritiker allerdings müssen
sich im dürrenmatischen Sinne bewusst werden, dass ohne Israel kein
Palästinenserstaat möglich ist. Wer das ignoriert, verhindert eine Lösung.
http://www.tachles.ch
hagalil.com 10-07-2006 |