Ratlose internationale Gemeinschaft:
Kriegsgründe und Kriegsziele
Von Ulrich W. Sahm Der
bislang namenlose Krieg im Libanon erzeugt Verwirrung, weil er nicht in
traditionelle Denkschablonen passt. Man streitet sich über die Frage, ob es
ein Konflikt oder ein Krieg sei. Manche stoßen sich daran, dass der Krieg
nicht "erklärt" worden sei. Doch weder der Erste noch der Zweite
Weltkrieg wurde jemals "erklärt". Das Klischee
des "David gegen Goliath" wird bemüht, als wenn es nicht einer kleinen
Gruppe fanatischer Männer mit Teppichmessern gelungen wäre, die Supermacht
Amerika am 11.9. ins Herz zu treffen. Das biblische Bild bestätigt, dass der
libanesische David mit Geschick den israelischen Goliath überrumpeln konnte
und mit einem wohlgeplanten Zwischenfall in einen ungewollten Krieg ziehen
konnte. Israel kann mit Panzern und Kampfjets
innerhalb weniger Tage der Infrastruktur des Libanon sichtbaren Schaden
beifügen. Aber die Hisbollah-Miliz kann mit vergleichsweise primitiven
Mitteln ein Drittel der israelischen Bevölkerung in die Flucht jagen. Die
unberechenbare Bedrohung des Nordens Israels mitsamt der Großstadt Haifa
durch willkürlichem Raketenbeschuss verursacht möglicherweise größeren
wirtschaftlichen Schaden, als - in Dollars gerechnet - die Zerstörung der
Brücken im Libanon. Eine von der Hisbollah in Kauf
genommene militärische Niederlage kann leicht zu einem politischen Triumpf
mit fatalen Auswirkungen für die ganze Welt werden. Umgekehrt prophezeien
Sympathisanten populärer Befreiungskämpfe, dass eine mit der Bevölkerung
verwachsene ideologische Bewegung wie die Hisbollah dank ihrer
Guerillatechnik "niemals" von einem stehenden Heer, wie etwa die israelische
Armee, besiegt werden könne.
Die Hisbollah löste diesen Krieg mit einem lokal begrenzten Zwischenfall
aus, so dass bei ihr der Kriegsgrund erklärt werden muss. Israel reagierte
unproportional, sodass eher das Kriegsziel relevant ist.
Die von Iran und Syrien gelenkte libanesische Hisbollah kann ihr
ideologisches Kampfziel, die "Befreiung Jerusalems" und die Vernichtung des
zionistischen Gebildes Israel mit militärischen Mitteln nicht erreichen. Sie
kann aber mit einer begrenzten Stichelei den ganzen Nahen Osten aus den
Angeln heben. Warum tat sie das ausgerechnet jetzt? Die vorgeschobenen
Gründe klingen wenig überzeugend: der Hamas bei ihrem Kampf gegen Israel
durch eine zweite Front beizustehen oder Gefangene aus israelischen
Gefängnissen freizupressen.
Unbeachtet von der abgelenkten Medienwelt wütet Israel zur Zeit härter und
umfassender in den Palästinensergebieten als in "normalen Zeiten". Die
"Hilfe" der Hisbollah könnte der Hamas am Ende teuer zu stehen kommen. Ihren
wahren "Sieg" errang die Hisbollah schon in den ersten Minuten dieses
"Konflikts". Mit Erfolg half sie dem Iran, vom Ultimatum des Westens gegen
dessen Atomprogramm abzulenken. Das unsägliche Gemetzel im Irak, die
unerträgliche Erderwärmung, die unbeschreibliche Not in Darfur und viele
andere (wichtigere) Themen wichen auf dem G8 Gipfel einem Scharmützel an der
libanesisch-israelischen Grenze. Mit Erfolg spaltete die Hisbollah die
arabisch-islamische Welt. Die gemäßigten arabischen Länder fühlen sich von
der islamistisch-iranischen Koalition genau so bedroht wie Israel und der
Westen.
In diesem Kontext erhält Israel präzedenzlose politische Schützenhilfe,
trotz Kritik wegen "exzessiver Gewalt" und intensiver Berichterstattung über
die in Mitleidenschaft gezogene Zivilbevölkerung im Libanon. Die Araber
schweigen, die Europäer wollen Israel helfen und die Amerikaner schicken
sogar zwei-Tonnen Bomben zum Knacken der Hisbollah-Bunker. Soweit erkennbar,
plant Israel keine erneute Besetzung des Libanon. Vor sechs Jahren hat
Israel den Libanon geräumt, "um nie wieder zurückzukehren". Eine israelisch
besetzte Pufferzone macht heute keinen Sinn mehr, da iranische und syrische
Raketen im Besitz der Hisbollah weiter fliegen, als der Libanon lang ist.
Eine Guerilla-Miliz, die ihre Gewehre im Kleiderschrank versteckt, kann
nicht wie eine herkömmliche Armee auf dem Schlachtfeld besiegt werden, wo
die Zahl zerstörter Panzer und getöteter Soldaten klare Verhältnisse
schafft.
Israel will eine "neue Ordnung" schaffen. Zu dem Zweck muss es der Hisbollah
politisch wie militärisch möglichst schmerzhafte und entehrende Schläge
beifügen, jedoch ohne den Solidarisierungseffekt unter den Libanesen in
politischer Geiselhaft der Extremisten zu verstärken. Israel kann wohl einen
Großteil der militärischen Hardware, Raketen und Kanonen, zerstören, der
Hisbollah schmerzhafte Verluste beibringen, ihre Kommunikations- und
Nachschubwege aus Syrien dezimieren und ihre Führung physisch ausschalten.
Je härter der Schlag, desto eher hätten die schwache libanesische Regierung,
die unsichtbare Armee und vor allem die ratlose internationale Gemeinschaft
eine Chance, den Libanon als souveränen Staat wieder herzustellen und den
syrisch-iranischen Einfluss zu mindern. Krieg ist
wie Politik ein Pokerspiel. Unvorhersehbare Ereignisse können jederzeit
einen Strich durch alle Rechnungen machen. So ist der Ausgang auch dieser
Krise völlig ungewiss. |