Irak:
Partizipation statt Tyrannei der Stämme
Im Irak droht trotz Demokratie
ein Rückfall in Klanstrukturen
Von Thomas Uwer und Thomas von der Osten-Sacken
Erschienen in:
Internationale Politik, 6/61, Juni 2006
Dass die Demokratisierung des Iraks schleppend
vorangeht, ist keine Frage der Kultur, sondern Folge der Diktatur. Statt
Demokratie und Rechtsstaat setzen sich nun wieder alte Stammes- und
Klientelstrukturen durch, die jeden Individualismus verhindern. Neben
wirtschaftlicher Liberalisierung ist die Stärkung eines
zivilgesellschaftlichen Bewusstseins im Irak vonnöten.
Will man sich ein Bild der Lage im Irak drei Jahre nach
dem Krieg machen, so stößt man vor allem auf Widersprüche. Mobiltelefone und
Satelliten-TV überschwemmen die Haushalte der großen Zentren, während die
Bewohner der Vorstädte und Dörfer in perspektivloser Armut vegetieren; in
den sunnitischen Kernprovinzen herrscht spätestens nach Sonnenuntergang
Gewalt und Gesetzlosigkeit, während die Iraker sich zugleich in freien
Wahlen für eine Verfassung und eine Regierung entschieden haben. Und obwohl
die Wahl des als gemäßigt geltenden Schiiten Dschawad al-Maliki zum
Ministerpräsidenten international begrüßt wird, beruht sie doch darauf, dass
islamische Parteien und nicht säkulare Modernisierer die Mehrheit der
Parlamentssitze für sich beanspruchen.
Fest steht vor allem eines: Was immer dem Irak für die
Zeit nach der militärischen Niederlage des Ancien Régime vorhergesagt wurde,
hat sich in den vergangenen drei Jahren als unzutreffend erwiesen.
Spätestens seit im Herbst 2004 das absehbare Ende des so genannten
Widerstands verkündet und im gleichen Moment bereits widerlegt wurde, hält
man sich in Washington mit konkreten Erfolgsprognosen ebenso zurück wie
hierzulande mit der Vorhersage eines sicheren Scheiterns des
Demokratisierungsprojekts im Irak.
Eine unverdächtige Meldung stammt vom 12. April 2006 (1)
und handelt von Silva Shahakian, einer jungen Frau aus Bagdad. Shahakian ist
die aktuelle Miss Irak, und die Art und Weise, auf die sie es wurde, sagt
einiges aus über die Realität im heutigen Irak. Denn gewählt wurde zunächst
eine andere, diese trat allerdings sofort wieder zurück, weil gleich mehrere
islamistische Gruppen sie mit dem Tode bedrohten. Die Zweit- und
Drittplatzierte taten es ihr gleich und reichten die Krone schließlich an
Shahakian weiter. Diese nahm an und will bei den Wahlen zur Miss Universum
in Los Angeles antreten.
Meldungen wie diese handeln von Menschen, die ihren meist
wenig heldenhaften Alltagsgeschäften nachgehen, und von solchen, die genau
dies zu verhindern trachten. Sie handeln von Leuten, die inmitten
allgemeiner Gewalt eine persönliche Lebensperspektive verfolgen, und sei es
nur die, für ein Jahr den Titel einer Schönheitskönigin zu tragen und damit
vielleicht den Sprung ins Mode-Business zu schaffen. Das mag trivial
erscheinen, zeigt aber, was Befreiung für eine große Zahl vor allem junger
Iraker bedeutet: die Eröffnung einer persönlichen Lebensperspektive. Denn
wenngleich viele Iraker sich einig darüber sind, dass die Entwicklung seit
dem Sturz Saddam Husseins besser hätte verlaufen können, so stellt doch
schon allein die Tatsache, dass eine Verbesserung der persönlichen
Lebensumstände denkbar und erreichbar scheint, den entscheidenden Bruch mit
dem Leben unter der Diktatur dar.
Dieser Bruch ist nicht mit einem Mal und für immer im
April 2003 vollzogen worden. Während Silva Shahakian für eine neue, vor
allem städtische Mittelschicht steht, der Studenten, Ärzte, Techniker,
Journalisten oder Menschen- und Frauenrechtsaktivisten angehören,
verfestigen sich auf der anderen Seite Klientelstrukturen, die das Überleben
des Einzelnen erneut an seine Unterwerfung knüpfen. Viele Iraker durchleben,
was Herfried Münkler als das "Abschmelzen von Zeit" bezeichnet:
Jahrzehntelange Unproduktivität und Abhängigkeit auf der einen Seite, auf
der anderen ein Wirtschafts- und Verwaltungssystem, das unfähig war, große
Teile der Bevölkerung in den Verteilungszyklus einzubinden, haben eine
wachsende Gruppe von Menschen erzeugt, die, um jede Zukunftsperspektive
gebracht, einzig in der gewaltsamen Aneignung von Gütern eine
Überlebenschance sehen. Krieg, die nachhaltige Zerstörung wichtiger
Infrastruktur, anhaltende Unsicherheit und die Freisetzung einer großen
Gruppe von Menschen, für die die Anwendung von Gewalt alltäglich ist, haben
diesen Strukturen eine besondere Prägung gegeben. Die daraus erwachsenden
Probleme sind allein militärisch nicht zu lösen.
Darüber sollte allerdings nicht vergessen werden, dass die
Entwicklungen seit dem Sturz Saddam Husseins in vielerlei Hinsicht
ausgesprochen erfolgreich sind.(2) Man muss den
Vergleich mit Bosnien-Herzegowina oder dem Kosovo nicht bemühen, um zu
verdeutlichen, was im Irak in nur drei Jahren erreicht wurde: In drei
Wahlgängen haben die Iraker über den Verfassungsentwurf und ein frei
gewähltes Parlament bestimmt, die Kurden, jahrzehntelang gewaltsam
unterdrückt, stellen den Präsidenten eines Staates, der sich symbolträchtig
von der Erblast des arabischen Nationalismus gelöst hat, und mit dem
Grundsatz einer föderalen Verwaltungsstruktur wurde in einer Region, die von
autokratischer Herrschaft geprägt ist, ein Gegengewicht zum Zentralstaat
geschaffen.
Damit ist das Ziel der Demokratisierung natürlich noch
nicht erreicht. Denn neben der Etablierung formell demokratischer
Institutionen geht es um die Durchsetzung ziviler Strukturen im täglichen
Leben, die es dem Einzelnen überhaupt erst sinnvoll erscheinen lassen, über
die politische Zukunft aller mit zu entscheiden.
Das anhaltende Sicherheitsproblem ist dabei nur ein
Aspekt. Grundsätzlicher ist die Frage, ob es möglich ist, eine individuelle
Lebensperspektive auf Zeit zu entwickeln. Hier, und nicht entlang ethnischer
oder konfessioneller Grenzen, verläuft der wichtigste Bruch, der durch die
irakische Gesellschaft geht und neben regionalen Verbänden und Milizen auch
die Gefahr eines sich verfestigenden und unkontrollierten Verwaltungs- und
Sicherheitsapparats heraufbeschwört. Dieser Konflikt wird sichtbar nicht nur
in Bagdad und den sunnitischen Unruheprovinzen, sondern auch in Städten wie
Basra, wo schiitische Milizen zentrale öffentliche Institutionen
kontrollieren,(3) oder im kurdischen Nordirak, wo
ein unproduktiver Partei- und Verwaltungsapparat sich zu verfestigen droht.
Dennoch herrscht im Irak noch kein ethnisierter
Bürgerkrieg.(4) Im Gegensatz zur weitverbreiteten
Wahrnehmung, wonach der monatelange Streit, der den Parlamentswahlen folgte,
ein Ausdruck ethnischer Zerrissenheit des Iraks sei, zeigte sich, dass
wesentliche Mechanismen der Nachkriegsordnung funktionieren. Denn nicht mit
Gewalt oder Boykott, sondern durch Verhandlungen, in denen der Einsatz
föderaler Macht eine wichtige Rolle spielte, wurde die erneute Nominierung
des vormaligen Ministerpräsidenten al-Dschafari (Dawa-Partei) und seines
Innenministers Bajan Bakr Solagh (SCIRI) verhindert, denen sowohl eine zu
große Nähe zu Teheran als auch Versagen beim Aufbau der staatlichen
Sicherheitsorgane vorgeworfen werden.
Solagh zeichnet verantwortlich für die Einbindung
schiitischer Milizen in den Sicherheitsapparat des Innenministeriums, denen
die Bildung regelrechter Todesschwadronen zur Last gelegt wird. Eine
derartige Vermischung illegaler Milizaktivitäten mit offiziellen
Institutionen wird auch aus südirakischen Großstädten wie Basra berichtet
und weckt die Sorge vor der Entstehung schiitischer Regionalregime, in denen
die religiösen Parteien mit Waffengewalt das öffentliche Leben
kontrollieren. Gegen eine erneute Nominierung Solaghs machten sich neben den
Vertretern sunnitischer Parteien vor allem die Kurden stark. Die
Schlüsselministerien des Inneren und der Verteidigung sollen künftig von
"independent national figures" geleitet werden.(5)
Diese Entwicklungen bestätigen die Einschätzung des
amerikanischen Politologen Joseph Nye: "Drei Wahlen haben der schiitisch
dominierten Regierung eine gewisse Legitimität verliehen. Aber ohne
demokratisches Bewusstsein und entsprechende Institutionen sind Wahlen bloß
Ausdruck einer Tyrannei der Mehrheit."(6) Eine
erfolgreiche Entwicklung im Irak setze die Etablierung funktionsfähiger
Institutionen und gesellschaftlicher Mechanismen voraus, die unterhalb der
Regierungsebene in der Lage sind, diese Tyrannei zu verhindern.
Damit ist ein zentraler Aspekt benannt: Der Schlüssel zu
Verbesserungen im heutigen Irak liegt bei den Möglichkeiten und Rechten des
Individuums, sich gegen diese Kollektive in gleicher Weise zu behaupten wie
gegen einen erstarkenden Staat. Nicht das geschickte Management der
Bevölkerungsgruppen ist entscheidend für die Zukunft des Iraks, sondern ob
es gelingt, die materielle und politische Basis für eine Gesellschaft von
Bürgern zu schaffen. Die Akteure einer solchen Entwicklungsperspektive sind
nicht Ayatollahs oder Stammesführer, sondern Leute wie Silva Shahakian. Wer
über diese Menschen etwas erfahren möchte, der werfe beispielsweise einen
Blick auf die unzähligen, oft täglich erneuerten Weblogs aus dem Irak oder
verfolge die heftigen Kontroversen, die in den irakischen Medien geführt
werden.
Wo der Staat den Einzelnen nicht schützt, tun es Banden
Kein Iraker unter 40 – in einem Land mit einem
Durchschnittsalter von 19,5 Jahren – kann sich an ein Leben vor der Diktatur
erinnern. Womit die Koalitionstruppen im April 2003 also konfrontiert
wurden, war mehr als ein zerstörtes Land, in dem alle staatlichen Strukturen
zum Erliegen gekommen waren. Sie stießen auf eine Gesellschaft, in der es
zwar ein breites Verlangen nach Freiheit und besseren Lebensbedingungen gab,
der aber zugleich die grundlegenden Voraussetzungen fehlten, diese aus
eigener Kraft zu erreichen. Dies festzustellen bedeutet nicht, das
Unternehmen der Demokratisierung des Landes in Frage zu stellen. Im
Gegenteil: Entgegen der oft geäußerten Vorstellung, dass eine
Demokratisierung nicht von außen initiiert werden könne, war die Befreiung
der irakischen Gesellschaft vom Baathstaat aus eigener Kraft nicht möglich.
Eine von innen heraus eingeleitete Demokratisierung setzt neben der Existenz
von Institutionen oder doch zumindest informellen Strukturen der
Interessenartikulation viel grundlegender voraus, dass es derartige
Interessenträger im politischen Sinne überhaupt gibt. Genau dies aber wurde
im Baathstaat unmöglich gemacht.
Diese Vergangenheit ist in allen Landesteilen präsent.
Davon zeugen die mehr als 300 Massengräber, die seit April 2003 gefunden
wurden, etliche Millionen Geheimdienstakten verhafteter, beobachteter und
ermordeter Bürger, deren Auswertung noch Jahre beanspruchen wird, und nicht
zuletzt auch das Verfahren gegen Saddam Hussein. Davon zeugt aber auch der
problematische Neubeginn, der in weiten Landesteilen mit der Auflösung
zentralstaatlicher Herrschaft zugleich eine Auflösung der öffentlichen
Ordnung mit sich brachte. Die anhaltende Unsicherheit, die sich im
Verschmelzen formeller und informeller Institutionen mit einem oft
kriminellen Gewaltunternehmertum äußert, ist hierbei als Symptom zu
verstehen. Will man dessen Ursachen angehen, so reicht es nicht aus, die
irakischen Sicherheitskräfte zu reformieren. Der Wiederaufbau muss
grundsätzlicher an dem Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft im
Irak ansetzen. Dieses Verhältnis ist in dem Maße zerrüttet, in dem
Sicherheit und Auskommen über lokale, regionale, ethnische oder
konfessionelle Bündnisse gesucht werden.
Bereits in den letzten Jahren der Diktatur konnte
beobachtet werden, wie die Bedeutung von Abstammungsgemeinschaften im Irak
stetig stieg. Während die irakische Regierung nach den landesweiten
Aufständen von 1991 auf der politischen Ebene um einen Frieden mit den
Stämmen und damit eine Eindämmung des alltäglichen Widerstands bemüht war,
suchten auf alltäglicher Ebene immer mehr Iraker Unterstützung in lokalen
Gemeinschaften.(7) An die Stelle des Staates, der
nicht mehr in der Lage war, ein einigermaßen gesichertes Überleben zu
garantieren, sind Strukturen getreten, die Schutz durch gegenseitige
Loyalität versprechen:(8) Stämme und Klans,
lokale, oft konfessionell, manchmal ethnisch definierte Gemeinschaften.
Derartige Strukturen sind durchaus ambivalent: Sie bieten dem Einzelnen in
Zeiten der Krise Schutz und Auskommen, erwarten aber als Gegenleistung
Loyalität und die Unterwerfung unter das Kollektiv.
Solche Gemeinschaften sind durch Krieg, Verelendung und –
vor allem in den sunnitischen Kernprovinzen – den Zusammenbruch des bis
dahin herrschenden Systems zum wichtigsten Ordnungsmoment geworden. In
Teilen der schiitischen und vor allem der kurdischen Bevölkerung herrscht
nach den Erfahrungen mit der Baathdiktatur zugleich ein tiefes Misstrauen
gegenüber allen zentralstaatlichen Institutionen vor, welche die Autonomie
der vormals blutig unterdrückten Gemeinschaften beschneiden könnten. Dies
zeigt sich in der Bedeutung, die den zentralirakischen Stammesstrukturen
mittlerweile zukommt, in der Persistenz baathistischer Netzwerke (die oft
weniger ideologisch als vielmehr pragmatisch ausgerichtet sind), aber auch
in der Erstarkung schiitischer Milizverbände.
Allen gemein ist, dass sie Individualrechte
Kollektivrechten unterordnen, Exklusivität beanspruchen und Gefolgschaft im
Inneren durch die Verteilung von Posten und Gütern sichern. Sie erreichen
dies, indem sie ihre Interessen, vielfach gewaltsam, gegen konkurrierende
Verbände durchsetzen, und erzeugen auf diese Weise einen neuen Typus des
Untertanen, der nun nicht mehr dem Staat und der Nation, sondern dem Stamm,
der Mahdi-Armee, der Partei oder einem Propheten dient. Der größte Vorwurf,
den man der Übergangsverwaltung der Koalitionstruppen machen kann, ist, dass
sie die regressive Natur dieser Vergemeinschaftung nicht in ihrer Tragweite
erkannt, sondern, in der Absicht eine gesellschaftliche Befriedung zu
erreichen, diese teilweise sogar noch gestärkt haben.
Die Formen solcher Vergemeinschaftung sind in ihrer
konkreten Ausprägung denkbar unterschiedlich. Am unteren Ende der Skala
befinden sich jene Milizstrukturen, die sich vornehmlich aus perspektivlosen
jungen Männern rekrutieren und diesen zu einer begrenzten Macht durch die
Verfügung über konkrete Gewaltmittel verhelfen. Wo immer diese Milizen die
"Kontrolle" gewinnen, entsteht die Anarchie bewaffneter Banden, die danach
trachten, lokale Verteilungsstrukturen unter ihre Gewalt zu bringen, um –
etwa über die Besetzung öffentlicher Posten – bereits vorhandene Güter an
ihre Mitglieder zu verteilen. Damit perpetuieren sie lediglich einen
Ausnahmezustand, der in Elendsquartieren wie dem Bagdader Stadtteil
Sadr-City bereits zur Zeit Saddams herrschte. Diese Form der Herrschaft, die
sich mal lokal, in Form bewaffneter Stadtteilmilizen, mal organisiert,
nämlich eingebunden in die Milizverbände größerer Parteien, etabliert, wirkt
in zwei Richtungen: Sie unterminiert den Anspruch des Staates, ein für alle
verbindliches und in gleicher Weise gültiges Rechtssystem durchzusetzen,
indem Zonen unmittelbarer Herrschaft nach eigenen "Gesetzen" entstehen; und
sie bedroht die Freiheiten und Rechte des Individuums, die auf dem Schutz
vor der Willkür physischer Gewalt beruhen.
Am oberen Ende dieser Entwicklung stehen zivile, weil
nicht mit unmittelbarer Gewalt durchgesetzte Bündnisse, die auf der
ökonomischen Abhängigkeit der Bevölkerung von loyalitätsgebundenen
Verteilungsstrukturen gründen. Im kurdischen Nordirak ist zu beobachten, wie
die lokalen Parteien ihre Vormachtstellung durch eine auf der Verteilung von
Einkommen und Gütern fußende Klientelstruktur sichern. Seit April 2003 hat
sich mit der Vervielfachung der zur Verfügung stehenden finanziellen
Ressourcen auch die Zahl der öffentlichen Bediensteten multipliziert. Allein
die Provinz Sulemaniyah, mit einer Bevölkerung von etwa 1,6 Millionen
Menschen, verfügt über 130.000 öffentliche Bedienstete.
Eine große Mehrheit der Bevölkerung ist direkt oder
indirekt von der Beschäftigung in einer über alle Maßen aufgeblähten
Verwaltung abhängig. Die Loyalität zur Verwaltung und den sie lokal
dominierenden Parteien ist zur Voraussetzung für die Möglichkeit geworden,
am allgemeinen Wohlstand zu partizipieren. Obwohl sich im kurdischen
Nordirak über Jahre weitgehend demokratische Strukturen durchgesetzt haben,
etabliert sich so ein System ökonomischer Abhängigkeit, wie es für die
ölexportierenden Staaten nur allzu typisch ist. Bereits jetzt zeichnet sich
eine wirtschaftliche Konzentration auf die politisch-ökonomischen Zentren
der Region ab, während andere wirtschaftliche Sektoren genauso wie abseits
dieser Zentren liegende Landstriche strukturell unterentwickelt bleiben.
Es zeigt sich zugleich aber auch, wie schwer es ist,
einmal vollzogene Liberalisierungen rückgängig zu machen. Gegen die
zunehmende Macht der auf Parteieliten konzentrierten Verwaltung formiert
sich Opposition, eine kritische Presse meldet sich zu Wort. In mehreren
Fällen hat die Regionalregierung allerdings mit Repression, wie der
Verhaftung von Journalisten, reagiert.
Die Ölrente schafft Abhängigkeit von staatlichen Verteilungsstrukturen
Orientiert man sich an diesen beiden Extremen – der
gewaltsamen Milizherrschaft sowie den Strukturen ökonomischer Abhängigkeit
von einem ölrentenfinanzierten Verwaltungssystem –, so werden zwei
wesentliche Felder gesellschaftlicher Intervention sichtbar. Das erste ist
der Lebensbereich der irakischen Jugend. Mehr als die Hälfte der irakischen
Bevölkerung ist jünger als 24 Jahre. Es sind genau diese Jugendlichen, um
die religiöse und weltanschauliche Parteien werben, während das öffentliche
Schul- und Bildungswesen in einem beklagenswerten Zustand ist und den
Bedürfnissen und Interessen einer neuen Generation von Irakern nicht mehr
gerecht wird.(9) Eine unabhängige Jugendarbeit
existiert praktisch nicht.
Die heranwachsende Generation lernt daher auf der Straße,
dass es gilt, auf der richtigen Seite zu stehen, will man überleben. Man
erinnere sich nur an Nachkriegsdeutschland, um sich zu verdeutlichen, von
welch zentraler Bedeutung Jugendarbeit für eine gesellschaftliche
Demokratisierung ist. An vergleichbaren Institutionen, einer
entideologisierten Jugendarbeit, an Radiosendern und Zeitschriften, fehlt es
im Irak praktisch völlig. Wie leicht es andererseits ist, Jugendliche zu
gewinnen, zeigt das Beispiel eines freien Radios in Halabdscha, das von
einem Team aus Frauen und Jugendlichen der Stadt betrieben wird. Mit denkbar
geringen Mitteln wurde der Sender eingerichtet, der nach einer Anlaufzeit
von nur einem Jahr selbständig ein Programm für Jugendliche und Frauen
ausstrahlt, das praktische Informationen, Sexual- und Gesundheitsaufklärung
mit Popmusik und Quizsendungen verbindet. Und der Sender bildet junge
Menschen aus. Mehr als 30 000 Hörer erreicht der Sender täglich – in einer
Region, die über Jahre von islamischen Milizen kontrolliert wurde.(10)
Fraglos ist auch die große Zahl der Jugendlichen nur zu
erreichen, wenn es gelingt, eine ökonomische Perspektive zu entwickeln.
Diese kann, nach den Erfahrungen mit der auf Ölrenten konzentrierten
Wirtschaft des Landes, nur in einer weitgehenden Diversifizierung (11)
und der Schaffung wirtschaftlicher Segmente außerhalb der Staatsökonomie
liegen. Mit der vollständigen Kontrolle der Erdölindustrie und der
Ausschaltung staatsunabhängiger Wirtschaftsbereiche versuchte die
Baathregierung einst die Entstehung von konkurrierenden Interessenverbänden
zu verhindern. Sie schaltete damit zugleich das städtische Bürgertum und die
Intelligenz des Landes aus. Seit langem ist anerkannt, dass Rohstoffreichtum
allein keine Voraussetzung für eine ökonomische Entwicklung darstellt,
sondern im Gegenteil rohstoffzentrierte Ökonomien korrupte Staatsapparate
fördern. (12) Die wenig arbeitsintensive
Erdölindustrie ist zugleich nicht in der Lage, die große Zahl freigesetzter
Menschen im Irak in Arbeit und Lohn zu bringen.
Wenn der Irak in Zukunft nicht erneut auf der
vollständigen Abhängigkeit weiter Bevölkerungsteile von einem omnipotenten
Staat fußen soll, dann ist die Entwicklung neuer Wirtschaftsbereiche
unabdingbar. Obwohl dies in ähnlicher Weise auch von Institutionen wie der
Weltbank und dem IWF dargestellt wird,(13)
konzentriert sich die Wirtschaftspolitik des Iraks weiter vornehmlich auf
die Wiederherstellung der Förderanlagen mit dem Ziel, die Förderquote und
damit die dringend benötigten Staatseinnahmen zu erhöhen. Dass dennoch seit
April 2003 etwa 32.000 neue Unternehmen gegründet wurden, die
Telekommunikationsbranche (fünf Millionen Mobiltelefonanschlüsse seit 2003)
und der Immobilienmarkt boomen sowie der neue irakische Dinar sich entgegen
allen Erwartungen stabil zeigt,(14) sollte nicht
darüber hinwegtäuschen, dass es mehr bedarf, um die ökonomische Krise zu
überwinden.
Konzepte hierfür, wie die von Hernando de Soto propagierte
Durchsetzung und Registrierung von Eigentumsrechten,(15)
die Einrichtung eines irakischen Oil-Trusts nach dem Vorbild des Tschads
oder das Publish-what-you-pay-Konzept,(16) das
auf höhere Transparenz im Ölmarkt zielt, existieren zur Genüge. Woran es
mangelt, sind Anreiz und Beratung zur Formulierung und Umsetzung einer
konsistenten Wirtschaftspolitik.
Nicht vergessen werden sollte, dass es zugleich auch einer
Reform des Sozialwesens bedarf. Damit Wohlfahrt weder alleine in der Hand
eines alles kontrollierenden Staates liegt noch von lokalen
Klientelstrukturen nach der Maßgabe von Zugehörigkeit vergeben wird, muss
ein neues Konzept staatlicher Unterstützung und Förderung entwickelt werden.
Bei all diesen Aufgaben benötigt die irakische
Gesellschaft Unterstützung von außen, die weder militärisch noch
notwendigerweise durch Milliardenbeträge gedeckt sein muss. Gegenüber diesen
Aufgaben haben bislang aber vor allem jene Staaten versagt, die einen
militärischen Sturz des Baathregimes ablehnten und stattdessen auf zivile
Möglichkeiten der Einflussnahme verwiesen.
Die Bilanz vor allem des deutschen Engagements im Irak
fällt nach drei Jahren mehr als dürftig aus. Sieht man einmal davon ab, dass
ein Teil der Altschulden erlassen und diese als Entwicklungshilfe
umdeklariert wurden, so beläuft sich die Unterstützung für die zivile
Entwicklung der irakischen Gesellschaft auf wenige symbolische Gesten. An
Partnern mangelt es im Irak jedenfalls nicht – zumindest dann nicht, wenn
man, wie empfohlen, die irakische Gesellschaft nicht als Spielfeld
ethnischer oder konfessioneller Kollektive betrachtet, sondern den Sturz der
Baathdiktatur als Möglichkeit der Inrechtsetzung von Individuen begreift.
Denn daran, dass es an Individualrechten im gesamten arabischen Nahen Osten
mangelt, kann kein Zweifel bestehen.
Im Irak sind wichtige Schritte unternommen worden, diesen
Individualrechten zum Durchbruch zu verhelfen. Um eine Demokratisierung der
Gesellschaft auch in den alltäglichen Strukturen wirksam werden zu lassen,
bedarf es nun der gezielten Unterstützung der entstehenden zivilen
Strukturen. Die Voraussetzung dafür ist allerdings die Vision eines Nahen
Ostens der Bürger anstelle eines solchen der Untertanen.
THOMAS UWER, geb. 1970, ist Vorstandsmitglied der
im Irak tätigen NGO Wadi e.V. 2006 erschien von ihm: "Bitte bewahren Sie
Ruhe. Leben im Feindrechtsstaat".
THOMAS VON DER OSTENSACKEN, geb. 1968, ist Geschäftsführer von Wadi
e.V. 2003 gab er heraus (mit Andrea Woeldike und Thomas Uwer): "Amerika,
der 'War on Terror' und der Aufstand der Alten Welt".
Anmerkungen:
(1)
www.usatoday.com/news/world/iraq/2006-04-12-missiraq_x.htm.
(2) Vgl. u.a. Maria Cantwell: The Year of Transition in
Iraq, The Seattle Times, 7.5.2006.
(3) Zu den Entwicklungen im Südirak seien die Reportagen
des im vergangenen August in Basra ermordeten amerikanischen Journalisten
Steven Vincent empfohlen: Steven Vincent: In the Red Zone – A Journey into
the Soul of Iraq, Dallas 2004.
(4) Vgl. u.a. International Crisis Group: Middle East
Report No. 52: The Next Iraq War? Sectarianism and Civil Conflict, Bagdad
und Amman, 27.2.2006.
(5) Iraqi Press Monitor, 27.4.2006.
(6) Joseph Nye: Countdown to Withdrawal from Iraq,
www.project-syndicate.org/commentary/nye28.
(7) Vgl. Amatzia Baram: Neo-Tribalism in Iraq: Saddam‘s
Tribal Policies 1991–1996, International
(8) Vgl. Thomas Uwer: Challenges to Civil Society
Reconstruction in Iraq. A Rights-Based Approach to Post-Conflict Iraq,
Berlin und Helsinki 2005, S. 5.
(9) Vgl. die Äußerungen des ehemaligen Beraters des
irakischen Bildungsministeriums Andrew Erdmann: After Withdrawal,
Engagement, The New York Times, 1.1.2006.
(10) Vgl.
www.wadinet.de/projekte/newiraq/radio/index.htm.
(11) Vgl. Sabri Zire Al-Saadi: Oil and Iraq’s Economic
Strategy, Middle East Economic Survey, 51/2005.
(12) Vgl. Thomas L. Friedman: The First Law of
Petropolitics, Foreign Policy, Mai/Juni 2006, S. 28 ff.
Ist der Nahe Osten noch zu retten?
(13) Vgl. IMF Country Report 5/294, August 2005,
www.export.gov/iraq/pdf/imf_report_0805.pdf.
(14) Vgl. The Brookings Institution: Iraq Index –
Tracking Variables of Reconstruction and Security in Post-Saddam Iraq,
8.5.2006,
http://www.brook.edu/fp/saban/iraq/index.pdf.
(15) Vgl. Hernando de Soto: Freiheit für das Kapital!,
Berlin 2002.
(16) Vgl.
www.publishwhatyoupay.org.
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