Ein bisschen Frieden:
Was will Israel?
Von Miriam Magall
Am 22. Juni 2006 ist die Welt noch in Ordnung. Zum
ersten Mal nach seinem Amtsantritt trifft der israelische Ministerpräsident
Ehud Olmert mit dem Präsidenten der palästinensischen Autonomiebehörde,
Mahmud Abbas, zusammen. Damit folgen beide einer Einladung des jordanischen
Königs Abdullah II. Im wildromantischen Petra setzen sich alle drei Männer
zu einem Frühstück zusammen. Ihr Treffen wird als gut und warm bezeichnet.
Und doch, nur scheinbar ist die Welt im Nahen Osten in
Ordnung. Denn während König Abdullah II. von Jordanien mit seinen Gästen,
dem Israeli Ehud Olmert und dem Palästinenser Mahmud Abbas, friedlich
frühstückt und mit ihnen die Errichtung einer Freihandelszone im Jordantal
erörtert, protestieren die Bürger von Sderot lauthals gegen die ständigen
Angriffe mit Qassam-Raketen aus Gaza, die immer wieder ihre Stadt treffen.
Demonstranten blockieren Straßen am Stadteingang mit Lastwagen und
Traktoren, Mitarbeiter der Stadtverwaltung schließen sich einem Hungerstreik
der Bewohner von Sderot an, am Abend löscht die Stadtverwaltung für eine
Stunde die Straßenbeleuchtung, und Bürgermeister Mojal kündigt für die
kommenden Tage Protestaktionen im Jerusalemer Regierungsviertel an.
Was verlangen die Einwohner von Sderot, einer 1951
gegründeten israelischen Kleinstadt 25 Kilometer im Südosten von Aschkelon
und nahe beim Gaza-Streifen, aber auf israelischem Staatsgebiet? Sie
wünschen sich eigentlich nichts Ungewöhnliches, nur ein ruhiges Leben, so
wie es jeder Einwohner von München oder Heidelberg, von Kaufbeuren oder
Dortmund als selbstverständlich betrachtet.
Unter welchen Umständen leben die Einwohner von Sderot
statt dessen? In den letzten drei Jahren fielen mehr als 1000
Qassam-Raketen, abgefeuert von palästinensischen Terroristen aus dem
Gaza-Streifen, auf die israelische Kleinstadt, allein hundert in der zweiten
Juniwoche. Bis zum 22. Juni 2006 sind acht Tote, darunter mehrere Kinder, zu
beklagen. Man hat genau zwanzig Sekunden Zeit, um sich zwischen dem Ertönen
des Alarmsignals, das über in der Stadt verteilte Lautsprecher übertragen
wird, und dem Einschlag einer Qassam-Rakete in Sicherheit zu bringen. Für
Erwachsene ist das schon ein Problem, für Kinder praktisch ein Ding der
Unmöglichkeit. Die meisten Kinder und Jugendlichen in Sderot leiden denn
auch an posttraumatischen Stresssymptonen. Schlafstörungen und Bettnässen
sind häufige Erscheinungen, viele Kinder sind zur Beruhigung auf Medikamente
angewiesen.
Als sei das nicht genug, drangen am Sonntag, 25. Juni,
gegen 5.30 Uhr bewaffnete Mitglieder der Terrororganisationen Hamas und des
Popular Resistance Committees (PRC) durch einen zehn Meter tiefen Tunnel
unter dem Grenzzaun auf israelisches Territorium vor. Der Tunnel befand sich
im Gebiet von Rafah im südlichen Gaza-Streifen und reichte bis auf
israelisches Gebiet zwischen Kerem Schalom und der Kreuzung Sufa. Gedeckt
von Granatfeuer und Panzerabwehrraketen aus dem Gaza-Streifen griffen die
Terroristen einen Panzer an. Als die Angreifer nicht die hintere Tür des
Panzers öffnen konnten, weil sie von innen verriegelt war, kletterten sie
auf den Panzerturm und zwangen den Kommandanten Hanan Barak und seinen
Fahrer Pabel Soltzker, aus dem Panzer zu kommen. Sie erschossen beide aus
nächster Nähe. Ein dritter Soldat, Gilad Shalit, wurde bei der Explosion
leicht verletzt und nach Gaza entführt. Einen vierten Soldaten im Panzer,
Roi Amiti, hatten die Terroristen übersehen, er erlitt Verletzungen durch
zwei Handgranaten, überlebte aber, wenngleich sein Zustand schwer ist.
Schon einen Tag später, am Montagabend, meldete dieselbe
Terrororganisation PRC, die schon den Soldaten Gilad Shalit entführt hatte,
sie habe noch einen Israeli entführt. In der Tat verließ der 18jährige
Eliyahu Asheri am Sonntagabend das Haus eines Freundes in Beitar Illit
westlich von Bethlehem und machte sich auf den Weg in seine Schule. Er wird
noch um 21 Uhr an der Kreuzung French Hill (Jerusalem) gesehen, seither ist
er verschwunden. Einen Tag später wird die Leiche Asheris in Ramallah im
Westjordanland gefunden.
Es regnet weiter Qassam-Raketen auf Sderot, vier werden in
der israelischen Kleinstadt verletzt. Eine Rakete schlägt in unmittelbarer
Nähe des Hauses von Yonatan Abukasis ein, der erst kurz davor seine Tochter
Ella durch einen Raketenangriff verloren hat.
Selbstmordattentate palästinensischer Terroristen werden
vereitelt. Ein Selbstmordkommando, bestehend aus drei bewaffneten
Palästinensern und unterwegs, um israelische Soldaten in den Tod zu reißen,
wird am frühen Sonntagabend des 2. Juli rechtzeitig von israelischen
Soldaten abgefangen. Sie bemerken die Terroristen, als sie sich dem
stillgelegten Flughafen in Dahaniya zwischen Rafiah und dem Grenzübergang
Kerem Shalom im südlichen Gaza-Streifen nähern. Später ergibt eine
Untersuchung, dass zwei der Palästinenser Sprengstoffgürtel tragen. Am
Mittwoch, 5. Juli, vereitelt die israelische Armee einen groß angelegten
Anschlag im Zentrum Israels, als sie rechtzeitig einen Palästinenser mit
einem Sprengstoffgürtel im Industriegbebiet Barkan in Ariel im
Westjordanland abfängt.
Nicht verhindern kann die israelische Armee dagegen, dass
am selben Tag eine Qassam-Rakete mit der ungewöhnlichen Reichweite von 12
Kilometern in der israelischen Stadt Aschkelon landet. Das ist der
nördlichste Einschlag einer palästinensischen Rakete, die bis dahin aus dem
Gaza-Streifen auf eine israelische Stadt abgefeuert wurde. Es sollte nicht
der letzte sein, denn schon am Tag darauf, am 6. Juli folgte der nächste
palästinensische Raketenangriff auf Aschkelon.
Das Aktionsfeld der Terroristen verlagert sich nach
Norden. Am 4. Juli fordert der libanesische Ministerpräsident Fuad
al-Siniora den Iran auf, sein Nuklearprogramm einzustellen. Bei einem Besuch
in den USA ruft der Patriarch der Maroniten im Libanon Nasrallah Sfeir zur
Entwaffnung der Hisbollah in seinem Land gemäß der UNO-Resolution 1559 auf,
was sicher nicht leicht sei, denn es handle sich um Waffen aus dem Iran und
aus Syrien. Diese Waffen in den Händen der Hisbollah würden zur Instabilität
im Libanon beitragen. Walid Jumblat, das Oberhaupt der Drusen im Libanon,
äußert sich zur gleichen Zeit besorgt über die Einschleusung hochrangiger
Mitglieder des Terrornetzwerks Al-Qaida aus Syrien in den Libanon. Jumblatt
befürchtet, Syrien könne versuchen, nach dem syrischen Truppenabzug aus dem
Libanon das Land in einen zweiten Irak zu verwandeln.
Wie richtig diese libanesischen Appelle an die iranische
und syrische Adresse sind, erweist sich bereits ein paar Tage später. Am 12.
Juli um 9.15 Uhr Ortszeit nimmt die Hisbollah ihre Angriffe mit Raketen und
Artillerie auf israelische Städte und Militärposten auf. Ein
Hisbollah-Kommando überschreitet die nördliche Grenze und greift eine
Patrouille der israelischen Verteidigungskräfte an. Acht israelische
Soldaten werden getötet, zwei israelische Soldaten werden auf libanesisches
Territorium entführt. Mehrere Zivilisten werden durch die Raketenangriffe
verletzt, die Bewohner der Ortschaften in der Nähe der
israelisch-libanesischen Grenze werden aufgefordert, sich in die
Luftschutzräume zu begeben.
Wie schon nach der Entführung des israelischen Soldaten
Gilad Shalit entsendet die israelische Armee auch in diesem Fall sofort
Suchtrupps, um die Entführten ausfindig zu machen. Das hat die Hisbollah
nicht davon abgehalten, den Norden Israels weiterhin mit Raketen zu
beschießen. Am Freitagmittag, 14. Juli, trifft eine Rakete ein Wohnhaus in
der israelischen Stadt Safed. Zwölf Personen werden verletzt, eine Person
schwebt in Lebensgefahr. Am gleichen Freitagnachmittag gehen insgesamt 14
Raketen auf die Stadt nieder. Schon am Tag davor, am Donnerstag, wurde die
Stadt von zehn Geschossen getroffen, fünf Stadtbezirke wurden gleichzeitig
getroffen, 19 Personen wurden verletzt, am gleichen Abend erlag ein Mann
seinen schweren Verletzungen. Auch Nahariya in Nordisrael wird nicht
verschont. Sechs Raketen schlagen am Donnerstag in der Stadt ein, sieben
Personen werden leicht verletzt, und auch am Tag darauf, am Freitag, treffen
mehrere Raketen die Innenstadt, zwei Personen werden leicht verletzt. In der
Grenzstadt Kirjat Schmona werden am Donnerstag 90 Personen verletzt, ein
Frau stirbt am Morgen bei der Detonation einer Rakete in der Stadt. Die Frau
wird in ihrem Schlafzimmer von der Rakete getroffen. Weitere Raketen landen
in Hazor Hagalit bei Rosch Pinna, Beit Jan, Kibbutz Kabri, Kibbuz Gescher
Naziv, Kibbuz Saar und Ben Ami.
Zum ersten Mal landen auch Raketen in der israelischen
Hafenstadt Haifa. Acht Personen, darunter auch Araber, werden auf der Stelle
getötet. In der Zeit von Dienstag, 12. Juli, bis Sonntag, 16. Juli, hat die
Hisbollah mehr als 120 Katujuscha-Raketen auf Israel abgefeuert.
Was wollen die Terroristen der Hamas, des PRC und der
Hisbollah? Was wollen Syrien und Iran? Die Hamas und das PRC betrachten sich
inmitten eines, in ihren Augen legitimen Kampfes gegen Israel: Selbst im so
genannten "Gefangenen-Dokument" erkennt die Hamas nur indirekt die Existenz
des Staates Israel an und widerruft kurz darauf selbst diese indirekte
Anerkennung. Gleich nach ihrem Machtantritt hat die Hamas ja erklärt: Keine
Anerkennung Israels und keine Anerkennung der bis dahin zwischen Israel und
der palästinensischen Autonomiebehörde geschlossenen Abkommen. Mit der
Entführung des israelischen Soldaten sind die gewalttätigen
Auseinandersetzungen zwischen der Fatah und der Hamas im Gaza-Streifen
vergessen. Man kennt nur einen gemeinsamen Feind und ein gemeinsames Ziel:
Die Zionisten oder Juden, nie die Israelis, und alle träumen von einem
Filastin zwischen Mittelmeer und Totem Meer.
Die Hisbollah ihrerseits behauptet, sie befinde sich in
einem legitimen Widerstandskrieg gegen die zionistische Entität -- das
schmutzige Wort "Israel" nimmt Terroristenoberhaupt Nasrallah gar nicht erst
in den Mund. Warum Widerstand gegen Israel? Der Libanon wurde im Jahr 2000
bis auf den letzten israelischen Soldaten geräumt.
Was will Syrien? Es möchte liebend gern von seiner
Verwicklung in der Ermordung des libanesischen Politikers Hariri vor einem
Jahr ablenken und ebenso liebend gerne wieder als Schutzmacht im Libanon
einziehen? Was will Iran? Sein kein Blatt vor den Mund nehmender Präsident
sagt es klar und deutlich: Israel von der Landkarte wischen!
Was will Israel? Israel wurde 1948 mit Zustimmung
Stimmenmehrheit in der damaligen UNO als unabhängiger jüdischer Staat
gegründet. Seither hat das Land praktisch alle zehn Jahre einen mörderischen
Vernichtungskrieg seiner Nachbarn und, vorläufig, eine zweimalige Intifada
der Palästinenser über sich ergehen lassen müssen, ganz zu schweigen von
unzähligen Selbstmordattentaten, Überfällen und Raketen- und anderen
Angriffen auf seine eigenen Zivilisten, gleichgültig, ob Kinder, Männer oder
Frauen, Alte oder Junge. Was will Israel? Es will, davon war schon eingangs
die Rede, ganz einfach wie jeder normale Staat innerhalb anerkannter,
sicherer Grenzen leben und seinen Bürgern ein so gutes Leben wie nur möglich
bieten; möchte Zufluchtsort sein für alle Juden der Welt, falls diese sich
wieder einmal als mörderisch ihren jüdischen Mitbürgern gegenüber zeigt, und
möchte wieder das unbestrittene geistige Zentrum aller Juden auf der Welt
sein, das es einmal war.
Israel will keine Gebiete seiner Nachbarn erobern, will
sie nicht kolonisieren und sie auch nicht mit Gewalt zu seinem Glauben
bekehren. Es will, dass seine Bürger in Frieden leben. Mehr nicht. Aber das
ist in den Augen einiger seiner Nachbarn immer noch zuviel verlangt.
|