Das nationale Apriori:
Wie aus der BRD endgültig 'Deutschland' wurde
Ein Essay von Clemens Heni
Das Nationale ist
zum deutschen Apriori geronnen. Während die NPD und andere Nazis
jahrzehntelang für das massenhafte Tragen von Deutschlandfahnen, Wimpeln,
schwarzrotgold umrandete Untertassen und andere Embleme 'der Deutschen'
geworben haben, schweigt diese Partei heute, fast. Zu sehen sind nun die
propagierten Accessoires in Millionenausfertigung, ganz Deutschland
schwelgt, klatscht, schreit, jubelt und singt "blühe deutsches Vaterland"
wie früher nur die NPD im Hinterstübchen der Deutschen Klause in Delmenhorst
(bzw. zeitgleich die SED, die vom "sozialistischen Vaterland" sprach).
Ein deutscher Stürmer,
Podolski, hat die Strophen der Nationalhymne in seinen Fußballschuh, in das
Leder einschreiben lassen. Jetzt ist die Fanmeile in Berlin am Brandenburger
Tor (das ja jetzt geöffnet ist) zur einhellig getätschelten "patriotischen"
Liebeserklärung geworden, ohne Wenn und Aber, eine Art Bildzeitung in
Riesenformat. Wenige Hundert Meter weiter liegen die neu-deutschen Frauen im
schwarzrotgoldenen Bikini im Liegestuhl am Holocaust-Mahnmal – tote Juden
als Aussichtspunkt des Neuen Deutschland; diese ach so friedlichen
'Jungdeutschlandregimenter' setzen des Altkanzlers Schröders Wort vom
Holocaust-Mahnmal als "Ort, an den man gerne geht", lediglich in die Praxis
um.
Schon seit Anfang der
1950er Jahre Adorno seine empirische Reise zu den post-nazistischen
Deutschen unternommen hat – Schuld und Abwehr – ist bekannt, dass es
keineswegs bei den (West)Deutschen nur um Holocaustleugnung geht. Gerade
auch die Annahme der Schuld ("Wir Deutschen..." oder "Das macht uns so
schnell keiner nach...") an der Vernichtung der europäischen Juden war
möglich, indem Beethoven, Kleist, Luther und Fontane, Sekundärtugenden, C.D.
Friedrich und Verwandtes beschworen wurden. Später, in den 1980er Jahren,
sagte der erste Vorsitzende der Republikaner, Franz Schönhuber, dass
"Deutschland der Welt viel mehr geschenkt" habe, "als Auschwitz je
kaputtmachen könnte".
Vom
holocaustleugnenden Konjunktiv ganz zu schweigen spricht Schönhuber hier
eine deutsche Befindlichkeit aus, welche die letzten 20 Jahre, nach der
'Wiedervereinigung' und verschärft seit Rot-Grün 1998ff., immer mehr
Einfluss gewinnt, ja von einem Bestandteil rechtsextremer 'Deutungskultur'
(Karl Rohe) zu einer gesamtgesellschaftlichen 'Soziokultur' geronnen ist.
Wissenschaftstheoretisch ist dabei das Paradoxon zu analysieren wie gerade
eine Abkehr von Nationalgeschichte einer Verharmlosung und Universalisierung
der spezifisch deutschen, präzedenzlosen Menschheitsverbrechen Vorschub
leistet.
An sieben Punkten werde ich darstellen, wie sich diese Bewusstseinslage oder
Befindlichkeit, die neue deutsche Ideologie äussert und was daran
bemerkenswert ist.
1) Ein deutsches Graduiertenförderungswerk, 2002:
ein Küchlein mit Folgen
Als Ausgangspunkt mag ein Treffen von Nachwuchswissenschaftlern, alles
StipendiatInnen eines großen Graduiertenförderungswerkes, von Juli 2002
dienen. Dort hat ein kleines Küchlein, ein am Bahnhof gekaufter Muffin mit
Mini-US-Fahne dazu geführt, die Fronten zu klären. Eigentlich als Zuckerl
gedacht entpuppte sich das Gebäck zu einem Objekt der Abwehr seitens typisch
deutscher, linker JungakademikerInnen, die dieses US-Fahne – nach 9/11 zumal
– unerträglich fanden. Zufällig wurde zu dieser Zeit im TV ein Interview
Michel Friedmans mit dem israelischen Ministerpräsidenten Ariel Sharon
gesendet. Lediglich zwei der 17 Teilnehmenden hatten daran Interesse, die
anderen pflegten ihre Ressentiments gegenüber Juden im Allgemeinen, Israelis
im Besondern.
Wohlgemerkt: die Stimmung war schon so deutlich gegen Friedman, dass
Möllemanns Flugblatt von September 2002 zur Bundestagswahl, auch gewisse
Töne dieses Treffens vornehmlich linker, durchaus gewerkschaftsnaher
Akademiker aufgreifen konnte. Dass es genau diese Stiftung bzw. ihre
Doktoranden war, die wenige Monate später einen handfesten
Antisemitismus-Skandal erlebte (als dessen Konsequenz immerhin eine Tagung
zur Kritik des linken Antisemitismus stand), als ein migrantischer Doktorand
nassforsch antiisraelische Töne durchs weltweite Netz jagte, überrascht
nicht mehr. Fazit: Ressentiments gegen kleine amerikanische Fahnen, Juden
und Israelis gehörten zum guten Ton dieses akademischen Nachwuchses. Das
führt mich zum zweiten Beispiel.
2) Ein weiteres deutsches Graduiertenförderungswerk,
Juni 2006: ich bin deutsch und was bist du?
Mitten in der nationalen Paranoia im Juni 2006, als Siege der deutschen
Fußballnationalmannschaft gegen schwache, schwächste oder unmotivierteste
Teams die Stimmen der Moderatoren sich überschlagen und Millionen von
Individuen zu einer homogenen Masse zusammenfinden lässt, eine weitere
Tagung eines anderen, kleineren Graduiertenförderungswerks. Zu einem Spiel
der deutschen Mannschaft wurde extra Party-Material gekauft, um einen Raum
zu schmücken. Nicht etwa, um allgemein Fußball-Fan-Artikel der WM ganz
allgemein zu drapieren, nein: ausschließlich schwarzrotgold war angesagt,
noch nicht einmal die Farben der gegnerischen Mannschaft waren im Horizont
der Vorbereitungsgruppe dieses Abends.
Erwachsene Akademiker malten sich mit Schminke die Farben des 'deutschen
Vaterlandes' ins Gesicht – wie sollen diese Persönchen in Zukunft noch ernst
genommen werden als Wissenschaftler, Intellektuelle gar oder einfach nur
interessante Individuen? So etwas war noch vor 12, 8 oder auch 4 Jahren
undenkbar.
Dass keineswegs nur typische, ich-schwache und autoritär sozialisierte
Personen dazu neigen sich mit einer Nation zu identifizieren, zeigen solche
Beispiele wie auch die folgenden. Gleichwohl ist jede nationale
Identifikation in Deutschland Zeichen eines persönlichen Defizits, das zu
kompensieren aufgebrochen wird.
3) Walk of Ideas, Berlin 2006
Mitten in Berlin stehen sechs mega große Skulpturen, die zeigen sollen, dass
Deutschlands "größtes Kapital" "die Ideen der Menschen" seien. Erfindungen
werden hier nicht als Erbe der Menschheit, vielmehr als nationales Gut, als
'volksmässig' akkumuliertes Kapital betrachtet. Vom Automobilismus, der
Medizin, der unvermeidlichen Bemächtigung Einsteins Relativitätstheorie über
den Fußballschuh, der Musik hin zum Buchdruck.
Letzterer ist ein gutes Beispiel, wie Deutschland heute funktioniert: "Die
Verbreitung des gedruckten Wortes beschleunigte Reformation und Aufklärung
und unterstützte die Alphabetisierung. Dichter und Denker nutzten die neue
Technik und ließen die deutsche Buchlandschaft erblühen - Zensur und
Barbarei hätten sie fast zerstört: Am 10. Mai 1933 verbrannten
Nationalsozialisten überall in Deutschland Werke moderner und
regimekritischer Autoren. Die Bücherverbrennung setzte 500 Jahren deutscher
Buchkultur ein vorläufiges Ende." So steht es auf einer Tafel zu dieser
Skulptur am Bebelplatz in Berlin, Unter den Linden.
Da stutzt man gewaltig: die Bücherverbrennung als "Ende" "deutscher
Buchkultur"? Waren die Werke Carl Schmitts, Richard Euringers, Eberhard
Wolfgang Möllers, Martin Heideggers oder Erwin Guido Kolbenheyers nicht
gedruckt worden in den Jahren 1933–1945? Was verbirgt sich hinter der
Chiffre "moderner und regimekritischer Autoren"? Wenn die Werke Heines aus
dem 19. Jh. verbrannt wurden, wurde dann ein "NS-regimekritischer" Autor
verbrannt? Typisch ist die Auslassung des Antisemitismus, der jedoch de
facto in Goebbels hetzerischer Ansprache an jenem 10. Mai 1933 auf diesem
Platz deutlich zu hören war, als er vom "jüdischen Intellektualismus"
sprach, der ein Ende nehmen müsse. Dass sich gerade die Deutschen über die
Jahrhunderte hinweg gerade nicht als Gesellschaft, die Büchern
aufgeschlossen gegenüber steht, entwickelt hat, vielmehr Juden als Vertreter
einer "Buchkultur" oder "Gesetzesreligion" angeprangert wurden, wird einfach
derealisiert.
Wer sich die Geschichte des Antiintellektualismus anschaut, d.h.
insbesondere die bis heute prägende Studie von Dietz Bering von 1978, weiß,
dass der Affekt gegen das Buch in Deutschland von links bis rechts Tradition
hat. Die Skulptur des Jahres 2006 suggeriert den Millionen Besuchern Berlin
bzw. der Bundesrepublik: fast wäre das Buch an sich zugrunde gegangen, aber
es ging noch mal gut. Dazu gesellt sich natürlich das Automobil, unter
Hitler wären es die Autobahnen gewesen, welches der Welt vor dem
Brandenburger Tor präsentiert wird. Dass Audi, deren Modell nun
überdimensional vor dem Brandenburger Tor steht, heute eine Tochter des
Volkswagenkonzerns ist, der 1938 in der "Stadt des KdF-Wagens bei
Fallersleben" gegründet wurde, wird klammheimlich bejaht, ja verbreitet
Stolz im Neuen Deutschland wie annodazumal.
4) "Die Nazis wurden doch sportlich, 1936!" Neu-deutsche Wissenschaft als
Rehabilitierungsübung für den Nationalsozialismus
Auch in der Wissenschaft ist seit Jahren ein Trend bemerkbar, den
Nationalsozialismus als ganz normale Gesellschaft – hier am Beispiel des
Sport – darzustellen, Antisemitismus und Volkstumsideologie werden entweder
offen oder subkutan affirmiert. Dazu dient als brillantes Beispiel die
häufig zitierte und auch von linken Zeitschriften wie Konkret positiv
angeführte Historikerin Christiane Eisenberg, die insbesondere deshalb in
gewissen Kreisen einen Namen hat, weil sie Fußball-Analyse als
wissenschaftliche Disziplin anerkannt habe.
Wichtig für ein Verstehen Ihres Ansatzes ist der Kulminationspunkt ihrer
Habilitationsschrift aus dem Jahr 1997, eine Analyse der Olympischen
Sommerspiele 1936 in Berlin. In dieser Schrift versucht sie zu zeigen, wie
Deutschland durch den Sport eine bürgerlich(er)e Gesellschaft nach dem
Vorbild Englands wurde, die Studie heißt auch entsprechend ""English Sports"
und deutsche Bürger. Eine Gesellschaftsgeschichte 1800-1939". Eisenberg
versucht dem Sport ein Eigenleben auch und gerade unter den Bedingungen
eines Herrschaftssystems wie dem Nationalsozialismus, welchem damit
gleichsam ein ganz normaler Platz im Pantheon der (Sport-)Geschichte
gesichert werden soll, zuzugestehen. "Für die Atmosphäre der Spiele war es
darüber hinaus von kaum zu überschätzender Bedeutung, daß es reichlich
Gelegenheit zur internationalen Begegnung und freien Geselligkeit außerhalb
der Arenen gab. Gemeint sind hier weniger die Restaurants auf dem
Reichssportfeld und auch nicht die zahllosen Empfänge und Partys der
Nazigrößen.
Das Urteil gründet sich vielmehr darauf, daß der Großteil der männlichen
Athleten in einem Olympischen Dorf untergebracht wurde, so wie es erstmals
bei den vorangegangenen Spielen in Los Angeles 1932 versucht worden war.
Hatte das OK [Olympische Komitee C. H.] zunächst geplant, dafür eine bereits
bestehende Kaserne zu renovieren, so ergab sich 1933 auf Vermittlung Walter
v. Reichenaus die Chance, Neubauten zu bekommen. In der Nähe eines
Truppenübungsplatzes in Döberitz/Brandenburg wurden in einem landschaftlich
reizvollen Gelände 140 'kleine Wohnhäuser' für das Infanterie-Lehrregiment
gebaut, deren Erstbezieher 3.500 Sportler wurden. Es gab Sporthallen, ein
offenes und ein überdachtes Schwimmbad, Spazierwege, Blumenbeete und
Terrassen mit Liegestühlen. Zu den Gemeinschaftsräumen gehörten eine vom
Norddeutschen Lloyd bewirtschaftete Speiseanstalt mit internationaler Küche
und ein Kino."
Eisenberg will einer neuen Sicht auf den Nationalsozialismus den Weg ebnen.
In gezielter Negierung gesellschaftlicher Totalität isoliert sie
Momentaufnahmen aus ihrem Kontext, um deren Allgemeingültigkeit, ja
Universalität, kurz, das moderne Moment zu würdigen. Denn "Blumenbeete und
Terrassen mit Liegestühlen" sind ja eine feine Errungenschaft, in Berlin
1936 wenigstens so lobenswert wie in Los Angeles 1932, will sie suggerieren.
Sie kritisiert die kritischen Reflexionen und Analysen bekannter und
renommierter Sportwissenschaftler wie Hajo Bernett, Thomas Alkemeyer oder
Horst Ueberhorst. Auch die Untersuchungen des Politikwissenschaftlers Peter
Reichel über den Schönen Schein des Dritten Reichs qualifiziert Eisenberg
ab: "Diese Interpretation der Spiele vermag aus drei Gründen nicht zu
überzeugen. Erstens ist das zugrundeliegende Argument methodisch fragwürdig,
weil es nicht falsifizierbar ist. Wer immer das Gegenteil behauptet, daß
Berlin 1936 ein Ereignis sui generis und der schöne Schein auch eine schöne
Realität gewesen ist, riskiert es, als Propagandaopfer abqualifiziert zu
werden."
Die Olympiade in Berlin 1936 sei ein 'Ereignis' 'sui generis' gewesen,
gleichsam eine 'schöne Realität'. Diese positivistische Abstraktion von
jeglicher Gesellschaftsanalyse ist für nicht geringe Teile der
Mainstream-Wissenschaft typisch. Ihre Argumentation steigert Eisenberg noch,
indem sie Reichels Analyse im Reden von den vermeintlichen ontologischen
Zwittern Sport und Propaganda untergehen lässt: "Zweitens ist das Argument
unergiebig, weil Sport und Propaganda wesensverwandt sind. Beide sind nach
dem Prinzip der freundlichen Konkurrenz strukturiert, beide verlangen von
den Akteuren eine Be-Werbung um die Gunst von Dritten ('doux commerce'). Daß
dabei geschmeichelt, poliert, dick aufgetragen, ja gelogen und betrogen
wird, überrascht niemanden, weder in der Propaganda noch im Sport.
Olympische Spiele sind, so gesehen, immer Illusion und schöner Schein; eben
das macht ihre Faszination aus. Daraus zu folgern, daß Berlin 1936 eine um
so wirksamere Werbemaßnahme für den Nationalsozialismus gewesen sein müsse,
wäre jedoch kurzschlüssig. Denkbar wäre auch, daß Nutznießer der Propaganda
der Sport war. Diese Möglichkeit hat jedoch noch keiner der erwähnten
Autoren geprüft."
Eisenberg will sagen: So schlimm kann der Nationalsozialismus doch nicht
gewesen sein, wenn ein so zentrales Moment für moderne, freizeit- und
spaßorientierte Gesellschaften wie der Sport, gar ein 'Nutznießer' dieses
politischen Systems war. Diese eben zitierte Passage ist Ausdruck eines
Wandels politischer Kultur in der BRD. Ungeniert lässt sie den
Nationalsozialismus, am Beispiel der Olympischen Spiele von 1936, im
Kontinuum bürgerlicher Gesellschaft, die eben im Sport 'wesenhaft' lüge,
dick auftrage und schmeichele, aufgehen. Wie soll es nach der auf
internationale Verständigungspolitik" ausgerichteten Weimarer Republik
möglich gewesen sein, "daß die Olympiapropaganda nach 1933 plötzlich eine
Nazifizierung der Athleten und des sportinteressierten Publikums bewirkte?
Mußte nicht zuvor eine Versportlichung der Nazis erfolgt sein?" Bei dieser
Olympiade wurde ein 'Weihespiel', die "Olympische Jugend" von Carl Diem
uraufgeführt. Es geht in diesem olympischen Weihespiel um "'Kampf um Ehre,
Vaterland'". Die Jugend sieht ihrem Selbst-Opfer ins Gesicht: "Allen Spiels
heil'ger Sinn: Vaterlands Hochgewinn. Vaterlandes höchst Gebot in der Not:
Opfertod!" Eisenberg ordnet diesen Opfertod folgendermaßen ein: das Diemsche
"Festspiel" werde "in der sport- und tanzhistorischen Literatur als
Verherrlichung des 'Opfertodes' für die nationalsozialistische
'Volksgemeinschaft' interpretiert – was nicht zu überzeugen vermag. Erstens
gehörte die Opferrhetorik schon in der Weimarer Republik zum spezifisch
deutschen Sportverständnis (...) Zweitens haben die Zeitgenossen des Jahres
1936 die Szene ohne Zweifel mit dem Ersten Weltkrieg und nicht mit dem
bevorstehenden Zweiten in Verbindung gebracht."
Auch wenn sich die Historikerin ganz sicher ist ("ohne Zweifel"), bleibt zu
betonen: die Erinnerung an die deutschen Toten des I. Weltkriegs war sehr
wohl die Vorbereitung auf den II. Der 'Langemarck-Topos' der Jugend, des
Opfers und des Nationalen kommt hierbei zu olympischen Ehren. Die
internationale Anerkennung der Spiele ist Zeichen des Appeasements dem
nationalsozialistischen 'Aufbruch' gegenüber. Wenn in einem Buch von 1933
ausgeführt wird: "'Daraus erhellt, daß bei Ausbruch des Krieges der Zukunft
die Ausbildung künftiger Langemarckkämpfer um ein mehrfaches verlängert und
die Material- und Munitionsmenge für heutige Schlachten um ein Vielfaches
vermehrt werden muß'", so muss gerade eine solche Interpretation des
Langemarck-Topos ernst genommen und nicht, wie bei Eisenberg, als quasi
Weimarer Tradition, die zufällig 1936 wieder hervortritt, verharmlost
werden. Dagegen ist die Kontinuität von '33 bis '36 zu sehen, die soeben
zitierte Passage von '33 bekommt im Festspiel von Diem eine internationale
Beachtung findende Weihe, wie Eisenberg unschwer in der Forschungsliteratur
hätte nachlesen können: "So wurde im Glockenturm des Berliner
Olympia-Stadions eine Gedächtnishalle für die Toten von Langemarck
eingerichtet, und Carl Diems
Eröffnungsspiel der Olympiade von 1936 endete mit 'Heldenkampf und
Totenklage'; eine Division des Hitlerschen Ost-Heeres bekam den Namen
'Langemarck'".
Ein weiterer Kritikpunkt, ganz eng am Diemschen Spiel und seinen
Protagonisten wie der Ausdruckstänzerin Mary Wigman orientiert, ist
folgender: es lässt sich gut zeigen, wie Wigmans Auffassung von Opfertod
Diems Weihespiel in diesem Punkt inhaltlich bzw. choreographisch bereits vor
'33 antizipiert hat, so am "Stück 'Totenmal', einem Drama von Albert
Talhoff, welches von Talhoff und Wigman 1930 gemeinsam inszeniert wurde,
wobei Wigman die tänzerische Choreographie übernahm. Das Werk wurde zum
Gedenken an die Gefallenen des 1. Weltkriegs geschrieben. (…) [Zudem] ist
dieses Werk ein Prototyp nationalsozialistischer Inszenierungen, zum einen
wegen des Themas (Verehrung der gefallenen Soldaten) zum anderen wegen der
Form (die Inszenierung stellt eine Kombination aus Sprechchor und
Bewegungschor dar)." Waren schon die "Tanzfestspiele 1935" eine
"Propagandaveranstaltung für den deutschen Tanz nationalistischer Prägung",
so kulminierte das im olympischen Jahr im Weihespiel von Diem, an dem Wigman
aktiv beteiligt war. Ein Sportwissenschaftler, Micha Berg, weist auf die
zentrale Bedeutung von Symbolik für das nationalsozialistische Deutschland
hin und zitiert den völkischen Vordenker Alfred Baeumler: "Das Symbol gehört
niemals einem Einzelnen, es gehört einer Gemeinschaft, einem Wir. Dieses Wir
ist nicht ein Wir des gesinnungsmäßigen Zusammenschlusses von
Persönlichkeiten, ist nicht ein nachträgliches Wir, sondern ein
ursprüngliches. Im Symbol sind Einzelner und Gemeinschaft eins. (…) Das
Symbol ist unerschöpflich, in ihm erkennt sich sowohl der Einzelne wie die
Gemeinschaft."
Dieses 'ursprüngliche Wir' kehrt heute im deutschen Feuilleton wieder,
gerade am Beispiel der deutschen Hymne, wie weiter unter an einem weiteren
Beispiel gezeigt werden wird. Es bleibt zu konstatieren, dass Eisenberg
darauf beharrt: Diems Festspiel ende doch mit Beethovens "Schlußchor der IX.
Sinfonie mit der 'Ode an die Freude' von Friedrich Schiller", was Ausdruck
von 'Kunst' sei. Sie schließt ihre Arbeit, indem sie nicht nur dem Sport
unterm NS mehr Möglichkeiten als noch in der Weimarer Republik attestiert,
sondern auch, den II. Weltkrieg als "Beeinträchtigung des Wettkampfbetriebs"
euphemisierend, dem Nationalsozialismus bescheinigt, er habe den "Sport"
zuungunsten des Turnens gewinnen lassen, was sie als "Rahmen für den Sport
in der Bundesrepublik" für gut erachtet. Besser hätte es die Neue Rechte
oder jeder Konservativismus auch nicht hinbekommen: Die Nazis wurden im NS
sportlich und nicht umgekehrt. Damit werden der NS verharmlost, Juden
gedemütigt und Deutschland gerettet, die Habilitations-Mission ist erfüllt.
Dieser etwas ausführlichere Ausschnitt mag verdeutlichen, wie gegenwärtige
Geistes- und Sozialwissenschaft in der Bundesrepublik funktioniert (wenn sie
erfolgreich sein will im affirmativen Sinne, Eisenberg bekam alsbald eine
Professur an der Humboldt-Universität). Es ist gerade bei politisch
angeblich unverdächtigen Personen Mode geworden, den Nationalsozialismus
einzubetten in ein Kontinuum, um auf jeden Fall den Zivilisationsbruch, den
Auschwitz bedeutet, zu verdecken oder zu leugnen. Die bürgerliche
Gesellschaft wird gerade in Deutschland so dargestellt, als sei die
Gesellschaft im NS 1936 ganz ähnlich strukturiert gewesen wie die der USA
bei den Olympischen Spielen 1932 in Los Angeles. Das, was das
nationalsozialistische Deutschland sehr spezifisch kennzeichnete, wird
gezielt weggewischt, als irreal abgetan oder schlicht und ergreifend gar
nicht analysiert. Vielmehr soll gelten: Die Existenz von Liegestühlen und
Blumenbeeten für Sportler wiegt den Antisemitismus und Ausschluss jüdischer
SportlerInnen auf. Dieser Antisemitismus ist erst auf den zweiten Blick
erkennbar, ein Blick, der allzu selten vorgenommen wird.
5) Drei weitere Beispiele 'linker' Wissenschaftler
und deren Verharmlosung der deutschen Verbrechen
In der Dissertation des heutigen Konstanzer Juniorprofessors Sven Reichardt
wird diese Position am
Beispiel eines Vergleichs deutscher und italienischer 'faschistischer'
Geschichte deutlich: "Der in dieser Arbeit zugrundegelegte Faschismusbegriff
stellt eine eigene praxeologische Analyse der faschistischen Bewegung vor,
die nicht an die marxistische Deutung und nur selektiv an die neuesten
angloamerikanischen Arbeiten und Noltes Definition anknüpft".
Antisemitismus wird
zwar als Differenz von italienischen Squadristen und deutscher SA erwähnt,
aber als wenig bedeutsam klein geredet, zudem als bloßer 'Rassismus'
verkannt. Das ist Folge des bei Reichardt paradigmatisch für weite Teile
heutiger Historiografie hervortretenden komparatistischen Zugangs, der die
Präzedenzlosigkeit der deutschen Verbrechen und ihrer Vorgeschichte gezielt
negiert. Konsequent ist es, wenn u. a. Reichardt dem Altlinken Karl Heinz
Roth
Rat gab bei der
Verabschiedung einer Analyse des Nationalsozialismus zugunsten eines
ubiquitären Faschismusbegriffs, vgl. Roths Aufsatz aus dem Jahr 2004
"Faschismus oder Nationalsozialismus? Kontroversen im Spannungsfeld zwischen
Geschichtspolitik, Gefühl und Wissenschaft".
Roth exkulpiert die
Deutschen in althergebrachter Diktion von ihrem Antisemitismus, wenn er
schreibt: "Weitaus gebräuchlicher ist indessen der Begriff
'Nationalsozialismus': Es handelte sich zunächst ebenfalls um eine
affirmative Selbstdefinition, die aber elementare Prämissen, nämlich den
militanten Antisozialismus, verschleiert. Darüber hinaus ist der Begriff
nicht vergleichsfähig, weil er seine faschistischen Kontexte und Varianten
per definitionem ausschließt. Er schließt aber auch alle anderen Bezüge zur
europäischen und Weltgeschichte aus oder unterwirft den Blick auf Europa und
die Welt der affirmativen Selbstkonnotation. Auch die kritisch distanziert
gemeinte Analyse des 'Nationalsozialismus' vermag nicht über einen
germanozentrischen Blickwinkel hinaus zu gelangen". Bezeichnend ist, dass
Roth nicht von einer deutschen Spezifik bei der Analyse des NS spricht,
vielmehr einer "transnationale[n] und komparative[n] Sichtweise auf die
faschistische Epoche" das Wort redet. Das wird von einem weiteren
Juniorprofessor sekundiert, wenn Kiran Klaus Patel
ohne mit einem Wort
den eliminatorischen Antisemitismus der Deutschen und die Präzedenzlosigkeit
der Shoah analysierend, "transnational" Phänomene wie den NS betrachten
möchte und zum Schluss kommt: "Gerade für das NS-Regime verspricht eine
transnationale Perspektive neue Erkenntnisse. (…) Denn die Distanz zwischen
NS-Regime und New Deal war weniger tief als häufig angenommen". Solche
Perspektive hat durch Arbeiten der Neuen Rechten – exemplarisch sei der
wichtigste Neue Rechte in der Bundesrepublik seit Anfang der 1970er Jahre
bis heute, Henning Eichberg, erwähnt – über die Jahrzehnte hinweg den Boden
bereitet bekommen.
6)
Das Opfer bringen und singen: "Blüh im Glanze deutsches Vaterland" – von
Diem zu Klinsmann
Jürgen Klinsmann wird zu Unrecht als wenig typisch deutscher Sportler
betrachtet. Zwar war er in England bei den Spurs eine Kultfigur geworden,
weil er als Deutscher so nett erschien und die Fans zu sangen begannen
"Juergen was a German now he is a Jew", was auf die umgepolte
Selbststilisierung zum "Judenklub" Tottenham Hotspurs anspielt, aber
analytisch ist das nicht tief gehend. Vielmehr war es Klinsmann, der das
Deutsche evozierte, aggressiv zu werden, trotz kalifornischem Wohnort und
internationalem Habitus. Er war es, der die deutsche Nationalmannschaft fast
einhellig dazu brachte, lauthals die Nationalhymne zu trällern, den jungen
Deutschen ein positives Gefühl für ihr Deutschland zu geben. Dass es so ein
Gefühl nach Auschwitz in Deutschland nie wieder geben sollte, fällt da
natürlich unter den volksgemeinschaftlichen Tisch. Dass keinem es auffällt
oder zu peinlich oder widerlich ist, eine Hymne zu singen, die wortwörtlich
auch im Nationalsozialismus gesungen wurde, ist doch schockierend, nicht?
Weit mehr: in einem Artikel der wiederum eher links-liberal daherkommenden
Frankfurter Rundschau steht am 27. Juni 2006 folgender Text, der sich anhört
als wäre er 1936 geschrieben worden, lange bevor der Autor geboren wurde:
"Wir wissen, schon in zwölf Jahren wird fast keiner mehr erzählen können,
wie er sich als Kriegsteilnehmer in einem Kreis von Kriegsteilnehmern
gefühlt hat, als der Sieg der deutschen Nationalmannschaft in Bern durch den
europäischen Äther ging. Wir wissen zugleich: Schon in ein paar Wochen wird
unsere Erinnerung an die schönsten Spiele dieser Weltmeisterschaft
merkwürdig transparent und ausgeblichen sein, als vertrüge unsere tägliche
Gedächtnispraxis das heftige Licht des Geschehenen auf Dauer nicht. Die
Gegenwart muss sich einhaken. Anders gesagt: Unsere stärksten Gefühle lassen
uns für eine kurze Spanne spüren, dass wir die kommenden Toten sind. Deshalb
ist es schön, sie zu zweit, und besonders rührend, sie in einer Gemeinschaft
von ähnlich Gestimmten durchleben zu dürfen. Gemeinsam singend, genießen wir
uns als die baldigen Toten."
Diese Propaganda ist nichts anders als die Beschwörung einer Gemeinschaft
von Deutschen, die sich in völkischer Tradition sehen wollen. Es hört sich
wirklich genuin nationalsozialistisch an, ist aber ein Text eines jüngeren
Autors, Georg Klein, Jahrgang 1953 und Ingeborg-Bachmann-Preisträger. Dieser
Feuilleton-Text zeigt die Ungeniertheit, die das nationale Apriori
ermöglich, hervorkitzelt und zum Ausdruck bringt. Eigentlich wäre bisher bei
so einer Zeile, dass die stärksten Gefühle jene seine, die mir sagen, dass
ich, nein: wir die "kommenden Toten" sein werden, ein Aufschrei durch das
Land gegangen. Heute nicht. Es geht nicht um die Sterblichkeit der Menschen.
Es geht um die Konstruktion eines homogenen Ganzen, eines Volkskörpers, das
jeden einzelnen nur unter dem Aspekt dieses Körpers, des Volkes sieht und
nicht – gleichsam katholisch gedacht – als Kind unter "Gottes Hand". Muss
man wirklich Katholik werden um solch völkische Rede der Frankfurter
Rundschau zu kontern? Gut, Klein möchte als Deutscher sterben, soll er das.
Es wird auch weiterhin Leute geben, die lieber als Menschen, als ganz
spezifische Individuen mit Macken, Vorlieben, Träumen, Sehnsüchten,
Hoffnungen, Enttäuschungen, Freuden und Ekel, denn als Deutsche sterben.
Dazu passt, dass der ehemalige Bundestagspräsident, Wolfgang Thierse,
fordert, doch noch mehr Strophen dieser deutschen Hymne zu verfassen. Nicht
etwas dass der ehemalige DDR-Bürger Thierse die Abschaffung eines nationalen
Symbols forderte, wo kämen 'wir' hin? Wer in Berlin in den Stadtteil
Lichtenberg im Osten fährt weiß wie aktuell die Gefahr des Umkippens
vorgeblich harmlosen Singens der deutschen Hymne in Hetze und Gewalt durch
Nazis ist. Dort gibt es Straßen, wo die Reichskriegsflagge in Eintracht mit
der schwarzrotgoldenen am Haus hängt. Vor wenigen Wochen, vor der WM, wurde
in dieser Gegend ein bekannter deutsch-türkisch-kurdischer Kommunalpolitiker
schwer verletzt. Nazis haben hier die Hoheit, schwarzrotgoldene Hosenträger,
Markenzeichen schon seit eh und je der dickbäuchigen Nazis, schon zu
BRD-Zeiten, sind ja heute in Mode, wo alle deutsche Welt schwarzrotgold
trägt, als Armkettchen, Rock, T-Shirt oder Gürtel aus biologisch abbaubarer
Wolle. All diejenigen, die jetzt das Deutsche hochleben lassen sind
politisch für solche Gewalttaten von Nazis mitverantwortlich zu machen. Das
ist ja auch nichts Neues: früher haben auch Liberale und Linke Konservativen
bzw. Rechten die Mitschuld am immer stärker werdenden Rassismus gegeben, am
deutlichsten und treffendsten vielleicht 1992/1993 bei der de facto
Abschaffung des individuellen Asylrechts durch CDU/CSU/SPD und ihren Helfern
in anderen Parteien, Medien und Verbänden.
Geschichtspolitisch wurde immer auf die Vordenkerfunktion der geistigen
Elite hingewiesen, nicht erst zum Historikerstreit 1986ff. Bereits Ende der
1970er Jahre, Anfang der 1980er Jahre, als in der BRD das Nationale offen
aufs Tableau kam – nicht zufällig schon damals übrigens von Jürgen Habermas,
der 1979 zwei Bände herausgab, welche die "nationale Frage" auf die
Tagesordnung setzten und Martin Walser davon sprach, lediglich wenn "wir
Auschwitz bewältigen könnten, könnten wir uns wieder nationalen Fragen
zuwenden" – wurde z. B. von Wolfgang Pohrt auf diese nationale
Vordenkerfunktion zumal der Linken, Alternativen und Grünen verwiesen.
Schon damals also wurde deutlich dass das Einfordern universalistischer
Prinzipien von Staatsbürgerschaft und politischem Gemeinwesen, für das
Habermas steht, einher gehen kann mit einer Verharmlosung der deutschen
Geschichte, ja ein nationales Narrativ gleichsam als Grundlage auch eines
nicht blutsmässigen Staatsdenkens zu erkennen ist. Wer also heute im
Schwenken der deutschen Fahne nichts Gefährliches sieht, weil er oder sie
nicht die Nazis auf der Straße, die fast komplett 'national befreite Zone'
Ostdeutschlands sieht, weil doch lediglich Party gemeint sei und ein
'Patriotismus' nie und nimmer mit Nationalismus verwechselt werden dürfe,
irrt gewaltig. Das wird im folgenden Punkt noch deutlicher.
In einer Radiosendung des SWR in Stuttgart vor wenigen Tagen ging es um
diesen neuen 'Patriotismus', die Fahnenmeere etc. Hermann Bausinger,
emeritierter und wohl dekorierter Kulturwissenschaftler aus Tübingen legte
die Pace dieser nationalen Debatte vor. Er meinte ganz freudentrunken, dass
das neue nationale Pathos völlig harmlos und schön sei, gerade weil alles
Militärische daran fehle. Und dieses Fehler des Militärischen sei Konsequenz
der deutschen Verweigerungshaltung im Irak-Krieg, ja die deutsche
Friedenssehnsucht sei Prämisse eines neuen, zurecht stolzen Deutschland. Der
Hass auf die USA, der Antizionismus, das Appeasement und die klammheimliche
Freude ob des Djihad sind dieser friedlichen Hetze inhärent.
7) Keine "Reue" zeigen: gegen "amerikanischen
Messianismus" - Matusseks nassforsche Invektiven oder Wie funktioniert
sekundärer Antisemitismus?
Der Spiegel Kultur-Ressort-Leiter Matthias Matussek hat mit seinem
Bestseller "Wir Deutschen – Warum uns die anderen gern haben können" ein
offen nationalistisches Buch geschrieben, das in vielerlei Hinsicht ohne
Walsers Tabubruch von 1998 im Mainstream-Journalismus nicht so ohne weiteres
zu denken war. Der Bezug zu Bausingers Friedensliebe der Deutschen ist ganz
offenbar in einem Interview Matusseks mit Peter Sloterdijk. Matussek gibt
dem TV-Philosophen eine neu-deutsche Steilvorlage, wenn er fragt: "Sichtbar
wird vielmehr ein neues deutsche Selbstbewusstsein, zumindest in der
Außenpolitik, die sich sogar den Widerstand gegen den amerikanischen
Messianismus erlaubt hat." Das Ressentiment gegen "jüdischen" Messianismus,
wie er in antisemitischen Texten überall auftaucht, bekommt hier völlig
selbstverständlich, aber rhetorisch kaschiert, seine Weihen. Der alte
SPD-Mann Egon Bahr nennt das in einem Büchlein dann logisch "den deutschen
Weg" – gegen den "amerikanischen" – und der Wirtschaftswissenschaftler
Werner Abelshauser stimmt als einer unter vielen in diesen nationalen Chor
ein.
Matussek ergeht sich nicht nur in Allgemeinplätzen, die er oft selbst
erfindet wie folgenden "Die Liebe zum Vaterland ist eine Kraft, schon seit
der Antike" – aber sein Ton ist so ungeheuerlich aggressiv, schwülstig
deutsch, durchsetzt von antienglischen Invektiven, dass deutlich wird, wie
stark ein stolzer Deutscher auf Feinde und Gegner eingestellt ist. Da werden
Engländer zum "unsympathischsten Volk auf Erden" erklärt, der deutsche
"Bildungsbürger" beschworen und gegen die "englische Klassengesellschaft"
gesetzt und Klaus von Dohnanyi, ein Altpolitiker der SPD aus Hamburg,
phantasiert demokratische Traditionslinien der Deutschen herbei, die
angeblich älter seien als die Englands ohne zu betonen, dass es in
Deutschland keine erfolgreiche und konsequente demokratische Revolution je
gegeben hat. Ein Hinweis auf deutsche Verbrechen trotz "Bildung" gereicht
den beiden Gesprächspartnern Dohnanyi und Matussek dazu, Englands
Sklavenhandel und Nordamerikas Sklavenhaltergesellschaft zu geißeln. Diese
deutschen Schuld-Projektionsleistungen sind zwar häufig analysiert worden,
aber treten heute umso reflexhafter, ungenierter hervor als je zuvor. 9/11
hat da Dämme brechen lassen.
Und so kulminiert das Gespräch der beiden Stolzdeutschen in einem Satz, der
an Antisemitismus und Wiederbetätigung im Sinne des Nationalsozialismus
nicht deutlicher ausfallen könnte: "Die Juden hatten es ja sogar in
Deutschland in den ersten Nazi-Jahren besser als damals die meisten
Schwarzen im Süden." So spricht Klaus von Dohnanyi und Matthias
Matussek hats gefreut! Solche Tabubrüche, den Nationalsozialismus mit seiner
Braunen Revolution von 1933 als Beginn zu loben, sind heute eine
Bestsellergarantie und kein Fall mehr für einen Skandal. Der Verlag der
solche antijüdische Propaganda druckte heißt auch nicht Grabert-Verlag,
vielmehr S. Fischer, einer der ganz großen Verlage in der Bundesrepublik.
An anderer Stelle untermauert Matussek seinen (nun sekundären)
Antisemitismus, seine Erinnerungsabwehr ist Walser nach dem Munde geredet:
"Bei uns wurde der Holocaust, nach einer lähmenden, brütenden Phase der
Verdrängung, in eine übereilfertige, nicht mehr versiegende, immer glattere
und abgeschliffenere Beschuldigungs- und Verachtungs- und
Selbstverachtungsphraseologie überführt, in der ständig nach dem politischen
Vorteil geschielt wird." Vor 30 Jahren hätte jeder Leser sofort an einen
Revisionisten gedacht bei solchen Zeilen, aber nein: Matussek ist kein
Holocaustleugner, gewiss nicht. Er ist ein typischer sekundärer Antisemit,
der immer, wenn es um die deutschen Verbrechen geht, jene zwar nicht leugnet
aber als Bagatelle abtut, ja er spricht – wörtlich – bezüglich des
Holocaust, der als Thema auf einem Empfang oder einer Party vorkam, von
einem "Stimmungskrepierer." Diese neu-deutsche Selbstverständlichkeit gerade
als Deutsche stolz zu sein, zu betonen, ja zu brüllen: die deutsche
Geschichte war im Kern was sehr Schönes, etwas ganz Einzigartiges, "Hitler"
war lediglich ein "Freak-Unfall der Geschichte" (O-Ton Matussek), ist die
neue Befindlichkeit, die neue, deutsche Ideologie im 21. Jahrhundert. "Ich
bin nicht tief traumatisiert, denn ich denke nicht oft an die deutsche
Schuld und an den Holocaust" sagt Matussek, er kämpft wie Walser und
Konsorten gegen die "moralische Keule".
Das sind die Töne des nationalen Apriori.
hagalil.com 07-07-2006 |