Neue Spielregeln:
Massenverhaftung von Hamas-Parlamentariern
Von Ulrich W. Sahm, Jerusalem
"Weitere scharfe Maßnahmen", drohte Israels Ministerpräsident Ehud Olmert
an. Was die Militärs in ihren Schubladen noch alles vorbereitet haben, ist
unbekannt. Aber jetzt schon erweist sich die israelische Regierung als
ziemlich fantasievoll. "Israel steht vor dem kritischen Punkt, die
Spielregeln der Behandlung von Terroristen zu ändern", erklärte
Verteidigungsminister Amir Peretz.
In der Nacht zum Donnerstag machten Soldaten und Kommandos die Runde der
Residenzen von Hamas-Mitgliedern. Die Soldaten hatten ordentliche
richterliche Haftbefehle bei sich. Unter den Verhafteten waren gemäß Angaben
israelischer Medien 64 Parlamentsabgeordnete und unter ihnen 8 Minister,
darunter der stellvertretende Premierminister der Hamasregierung. Das
israelische Außenministerium veröffentlichte dazu eine ausführliche
Erklärung. Die Hamas-Politiker seien verhaftet worden, weil sie "Mitglieder
in einer verbotenen Terrororganisation" und teilweise selber an Terror
beteiligt gewesen seien. Sie sollen verhört und angeklagt werden.
Im Rahmen der israelischen Gesetze zur Terrorbekämpfung sei der Staat
"gezwungen", diese Männer zu verhaften und vor Gericht zu stellen. "Sie
dienen nicht als Faustpfand", sagte der israelische Minister Jitzchak
Herzog. Und ein Jurist fügte hinzu, dass es gemäß israelischen Gesetzen
"verboten" sei, einen Menschen "grundlos" festzuhalten, um ihn dann als
Faustpfand bei einem Gefangenenaustausch zu verwenden. Die Hamasregierung
habe sich selber als terroristischer Täter dargestellt, indem sie Israel zur
Freilassung von palästinensischen Gefangenen aufrief, im Tausch für den am
Sonntag nach Gaza entführten Soldaten Gilad Schalit. So habe Hamas die
Beteiligung und Mitverantwortung für die Attacke auf israelischem
Territorium und die Entführung eingestanden. Bis dahin hatten Sprecher der
Hamas behauptet, keinen Kontakt mit den Entführern zu haben und sie nicht
einmal zu kennen. Jetzt aber schließen sie sich sogar deren Forderungen an
und reden, als hielten sie selber den Soldaten gefangen.
Die Palästinenser waren so schockiert von der unerwarteten Verhaftung des
halben Parlaments und Kabinetts, dass sie Stunden brauchten, um darauf zu
reagieren. Präsident Mahmoud Abbas habe allerdings noch in der Nacht
europäische Staats und Regierungschefs, sowie Präsident Mubarak von Ägypten
buchstäblich "aus dem Bett geworfen", um sie von der israelischen Razzia
unterrichten. "Ich bin enttäuscht über die schwache Reaktion der Welt auf
dieses ungeheuerliche Verbrechen", klagte Saeb Erekat, palästinensischer
Beauftragte für Verhandlungen mit Israel.
Die übrigen Abgeordneten und Minister der Hamas befinden sich (noch)
außerhalb der Reichweite der Israelis, weil sie im Gazastreifen leben. Doch
ausnahmslos hätten sie sich "in die Keller und Bunker in ihren Häusern
zurückgezogen und beantworten keine Anrufe", berichtet ein Reporter, der
versucht habe, sie zu erreichen. Im Gazastreifen rechnen nicht nur die
Palästinenser jeden Augenblick mit einer Fortsetzung der Operation
"Sommerregen". Alle arabischen Diplomaten, so der Hisbollah-Fernsehsender Al
Manar im Libanon, hätten schon ihre Koffer gepackt, um den Gazastreifen
umgehend zu verlassen.
Präzedenzlos ist auch der Abwurf von Flugblättern über Ortschaften im
Gazastreifen. Die Zivilbevölkerung wurde aufgefordert, zu ihrer eigenen
Sicherheit ihre Heime zu verlassen. Zunächst hieß es, dass nur Beth Lahia
und Beth Hanoun im Norden des Gazastreifens betroffen seien, insgesamt etwa
200.000 Menschen. Doch am Mittag meldeten israelische
Militärkorrespondenten, dass solche Flugblätter auch über Khan Younis und
Sadschaije im Süden abgeworfen worden seien. Offenbar glauben die Israelis,
danach ein freies Schussfeld zu haben, sowie der Befehl zum Einmarsch kommt,
und dann keine Rücksicht mehr auf Zivilisten nehmen zu müssen.
Derweil wurde in Ramallah die Leiche eines durch Kopfschuss getöteten
Siedlers aus Itamar in einem Feld entdeckt. Der 18-jährige galt zunächst als
vermisst, bis Sprecher einer radikalen Gruppe im Gazastreifen seinen Ausweis
herumzeigten und ihn als "Faustpfand" bezeichneten, damit Israel die
Offensive stoppe. Doch stellt sich heraus, dass der Siedler schon
unmittelbar nach seiner Entführung am Sonntag von Mitgliedern der Fatah-Al
Aksa Märtyrerbrigaden getötet worden war. Er war längst tot, dass die
Extremisten in Gaza den Israelis ein Ultimatum stellten und seine
Hinrichtung androhten. Ein zweiter Entführungsfall erwies sich als Lüge der
gleichen Extremisten. Am Mittwoch hatte die Polizei eine Vermisstenanzeige
zu einen 62 Jahre alten Mann aus Rischon Lezion bei Tel Aviv veröffentlicht.
Die Palästinenser notierten seinen Namen und behaupteten, auch ihn
gekidnappt zu haben. Doch inzwischen entdeckte die Polizei die Leiche des
Mannes beim Friedhof von Rischon Lezion. "Sie weist keinerlei Spuren von
Gewalt auf", erklärte ein Polizeisprecher. |