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Staat und öffentliche Bahngesellschaft in Frankreich:
Erstmals wegen Zuarbeit zu NS-Deportationen verurteilt

Doch gemischte Reaktionen auf das "historische" Urteil

Von Bernard Schmid, Paris

Eine "historische Entscheidung" nennt der französische Europaparlamentsabgeordnete der Grünen Alain Lipietz das Urteil, das am vergangenen Dienstag vom Verwaltungsgericht Toulouse gefällt wurde. Zum ersten Mal verurteilte ein französisches Gericht in direkter Form den Staat, aber auch ein Staatsunternehmen in Gestalt der Eisenbahngesellschaft SNCF, aufgrund ihrer Zuarbeit zur vom nationalsozialistischen Deutschland betriebenen "Endlösung der Judenfrage". Beide Parteien waren angeklagt, in der ersten Hälfte der 40er Jahre Personentransporte zu Deportationszwecken mit Zügen der Nationalen Eisenbahngesellschaft SNCF durchgeführt zu haben. Sie betrafen sowohl jüdische Menschen als auch so genannte Zigeuner sowie Homosexuelle.

Konkret ging es um den Vorwurf, Georges Lipietz – den Vater des heutigen Europaparlamentariers -, dessen Eltern und seinen Halbbruder Guidéon im Mai 1944 von Südfrankreich in das Lager von Drancy nahe bei Paris transportiert zu haben. Drancy diente damals als Durchgangslager, dessen Insassen von dort aus in die von Nazideutschland betriebenen Konzentrations- und Vernichtungslager im Reichsgebiet und im unterworfenen Polen transportiert wurden. Die Lipietz' waren am 8. Mai desselben Jahres, aufgrund der Denunziation durch Nachbarn, von der deutschen Gestapo in Pau verhaftet worden. Die Gestapo übergab sie jedoch den französischen Behörden, die sie zwei Tage lang in einem Gefängnis in Toulouse einsperrten und dann durch die SNCF ins Internierungslager Drancy weiter transportieren ließen. In Drancy verbrachten sie drei Monate, doch das Vorrücken der alliierten Truppen und der französischen Résistance verhinderten in letzter Minute ihren Abtransport in die deutschen Todeslager. Am 17. August 1944 kamen sie frei.

Georges Lipietz hat sein ganzes Leben hindurch für die Anerkennung der Mitverantwortung französischer Behörden bei der Durchführung der durch die Deutschen programmierten "Endlösung" gekämpft. Im November 2001 gelang es ihm und seinen Angehörigen, eine Schadensersatzklage einzureichen. Als Beweisgrundlage diente eine Rechnung über 210.385 Francs, welche die SNCF im August 1944 den französischen Behörden im August 1944 ausgestellt hatte – für den Transport von Personen im ersten Halbjahr. Die Rechnung war im November 1944 durch das befreite Frankreich unter Charles de Gaulle beglichen worden. Sie wurde 1992 durch Kurt Werner Schächter ausgegraben, einen Franzosen österreichisch-jüdischer Herkunft, der seinerseits Klage wegen der Deportation seiner Eltern erhob, damit aber abgewiesen wurde. (Die Abweisung der Klage wurde 2004 im Berufungsverfahren bestätigt.)

Georges Lipietz verstarb 2003, doch sein Sohn Alain und seine Tochter Hélène – sie sitzt für die Grünen im Pariser Regionalparlament – führten den juristischen Kampf an seiner Stelle fort. Sie begleiteten den noch lebenden Onkel in seiner Klage. Das Gericht von Toulouse hat den Staat und die SNCF nun dazu verurteilt, pro deportiertes Familienmitglied 15.000 Euro Schadensersatz zu leisten. Die 60.000 Euro müssen zu zwei Dritteln vom Staat und zu einem Drittel durch die SNCF aufgebracht werden. Zudem müssen beide Streitparteien Justizkosten in Höhe von 2.000 Euro zu gleichen Hälften übernehmen.

Urteilsgründe und Entfall der Verjährung

Verurteilt wurden der französische Staat und die SNCF wegen Freiheitsberaubung und menschenunwürdiger Unterbringung, in den zum Transport benutzten Viehwaggons oder im Internierungslager. Nicht übernommen hat das Gericht dagegen den durch die Kläger vorgetragenen Vorwurf der Beihilfe zum Völkermord. Denn es ist nicht erwiesen, dass die ausführenden Organe auf französischer Seite die volle Wahrheit über das deutsche Völkermordprogramm wussten.

Zu Lasten der SNCF wurde aber gewertet, dass es keinerlei Hinweise darauf gibt, dass ihre Repräsentanten gegenüber dem Staat oder den Deutschen hinsichtlich der Deportationen Protest eingelegt hätten. Entsprechende Spuren liegen jedenfalls nicht vor. Zwar hat es historischen Widerstand seitens vieler Eisenbahner während der nazi-deutschen Besatzung in Frankreich gegeben: Insgesamt sind 8.900 französische Eisenbahner wegen Beteiligung an der oder Hilfeleistung für die Résistance durch die Nazis erschossen worden. Dagegen wurde nach dem Kriegsende nur in 467 Fällen die "nationale Unwürdigkeit" über Beschäftigte der Eisenbahn verhängt, d.h. ihr Zusammenwirkung mit den NS-Kollaborateuren bestraft. Bei 450.000 Eisenbahnern, die es zu jener Zeit gab, eine wirklich vergleichsweise geringe Zahl. Aber die SNCF hatte eben auch jenes andere Gesicht, dass ihre Verwaltung konkret die Anordnungen "von oben" hinsichtlich der Deportationszüge ausführte. Zumindest hätte sie über diverse Kanäle die Résistance von der Durchführung der Deportationen benachrichtigen bzw. diese vorwarnen können. Dies ist allem Anschein nach nicht passiert.

Der Rechtsanwalt der SNCF, Yves Baudelot, berief sich darauf, dass die Vorwürfe verjährt seien ; sowie auf das Argument, die Eisenbahngesellschaft habe damals unter dem Zwang ihrer Dienstverpflichtung durch die deutsche Besatzungsmacht gehandelt. Die Anwendung der gültigen Verjährungsvorschriften (die ansonsten gegriffen hätten) wurde aber deshalb verworfen, weil die Kläger erst aufgrund jüngerer Entwicklungen davon Kenntnis hatten, dass sie erfolgreich vor Gericht um Anerkennung der französischen Mitverantwortung für ihre Deportation streiten konnten.

Die SNCF hatte seit 1992 ihre Archive geöffnet, um Historikern – ohne Bedingungen und ohne ihre Arbeit zu kontrollieren - die Suche nach der Wahrheit über ihre Rolle bei den Deportationen zu erlauben. Diese Entscheidung der SNCF wurde und wird durch die jüdische Community und durch Opferanwälte wie Serge Klarsfeld stets positiv hervor gehoben. Vor diesem Hintergrund legte der Forscher Christian Bachelier im September 1996 einen ausführlichen Untersuchungsbericht vor. Erst seitdem kann die Verantwortung der SNCF als offiziell erwiesen gelten.

Und im Jahr 2001 verurteilte das oberste Verwaltungsgericht den französischen Staat dazu, die Hälfte der 720.000 Euro zu übernehmen, zu deren Bezahlung an Deportationsopfer der französische Nazikollaborateur – und spätere Polizeifunktionär sowie Minister – Maurice Papon (1) 1998 verurteilt worden war. Erst seit diesem Urteil kann eine Mitverantwortung des französischen Staates als "juristisch festgestellt" vorausgesetzt werden. Bis Mitte der neunziger Jahre hatte die offizielle Staatsdoktrin noch gelautet, es gebe keine Kontinuität zwischen dem Vichy-Regime, das als widerrechtliche Herrschaft der deutschen Besatzungsmacht gedient hätte, und der der französischen Republik. Letztere trage damit auch keine Verantwortung. Erstmals hatte Jacques Chirac im Juli 1995 sich explizit zu einer Mitschuld französischer Staatsorgane an den Judenrazzien der Miliz und der Gendarmerie, und zur Übernahme einer "untilgbaren Schuld" durch die Republik bekannt.

Die Verjährungsfristen begannen demnach also erst mit der Vorlage des Untersuchungsberichts von 1996, sowie dem Urteil von 2001 zu laufen. Entsprechend, so stellen die Richter von Toulouse fest, können Deportationsopfer oder ihre Nachkommen noch bis im September 2006 gegenüber der SNCF sowie bis Ende dieses Jahres gegenüber dem Staat ihre Entschädigungsansprüche geltend machen. Die SNCF ihrerseits hat bereits angekündigt, Berufung gegen das Urteil von Toulouse einzulegen.

Strittige Bewertung

Die Bewertung des jüngsten Urteils ist unter Historikern, Anwälten und auch jüdischen Vertretern umstritten. Strittig ist etwa der Autonomiespielraum, über den die SNCF tatsächlich verfügte. Das Verwaltungsgericht in Toulouse hatte ihr erschwerend zur Last gelegt, dass die Bahngesellschaft Viehwaggons für die Transporte nach Drancy benutzt habe – aber die französischen Staatsorgane in Vichy ihr die Kosten für einen "Personentransport dritter Klasse" erstattet hätten. So seien die Transportbedingungen noch härter ausgefallen, als vorgeschrieben. Die SNCF, so stellt Alain Lipietz entsprechend fest, habe "noch mehr gemacht, als die Deutschen von ihr verlangten". Dies sei historisch falsch, meint dagegen deren Anwalt, Yves Baudelot. Denn vergleichen dürfe man die realen Bedingungen der Deportierten nicht mit den theoretischen Vorschriften der französischen Autoritäten - sondern mit den konkreten Vorgaben der Deutschen, unter deren Kommando sich die SNCF real befunden habe. Tatsächlich liefen die Transporte in die Vernichtungslager im ganzen deutsch besetzten Europa in Viehwaggons ab.

Auch Arno Klarsfeld, der Sohn des berühmten "Nazijägers" Serge Klarsfeld und selbst Rechtsanwalt, schließt sich dieser Auffassung an. Die Verantwortung für die Deportationen und den Genozid liege bei den Deutschen, und die SNCF habe keinen Entscheidungsspielraum gehabt. Letztere 60 Jahre nach den Ereignissen zu verfolgen, bedeute, "die realen Verantwortlichkeiten zu verwischen" - eine Bewertung, der man sich im Hinblick auf die Rolle Deutschlands vielleicht anschließen mag. Arno Klarsfeld ist allerdings ansonsten (in der jüdischen Community und andernorts) selbst nicht unumstritten. Während des Papon-Prozesses 1997/98 hatte der Zivilkläger Michel Slitinsky ihm - und anderen Anwälten - vorgeworfen, Auftritte in den Medien zu sehr der konkreten Prozesstätigkeit vorzuziehen und Maurice Papon gefährliche Zugeständnisse bei der Verhandlungsführung gemacht zu haben. (Tatsächlich scheint der Mann überfordert damit, an das intellektuelle und moralische Niveau seines prominenten Vaters heran zu reichen.) Heute ist Arno Klarsfeld, der in jüngster Zeit im Umfeld des amtierenden Innenministers Nicolas Sarkozy als Berater aktiv geworden ist, nebenbei auch als Anwalt der SNCF tätig - in einem ähnlichen Verfahren wie dem jetzt in Toulouse entschiedenen. Darin verteidigt er die Bahngesellschaft gegen Schadensersatzansprüche, die von den Nachfahren von Deportierten aus den USA gestellt werden. Arno Klarsfeld hatte die Klage der Lipietz' nach der Hauptverhandlung vom 16. Mai 2006 als "demagogisch, und historisch falsch" bezeichnet.

Ohne selbst so weit zu gehen, kritisiert auch Serge Klarsfeld die Verurteilung der SNCF, die sich durch die Archivöffnung und die Bemühung um die geschichtliche Wahrheit in den letzten 15 Jahren mustergültig verhalten habe. Und in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Vereinigung von Söhnen und Töchtern von jüdischen Deportierten fügte Serge Klarsfeld hinzu, von den zurück gekehrten Überlebenden der Todeslager sei ihm nicht bekannt, dass sie sich bei ihrer Rückkehr negativ über die Rolle französischer Eisenbahner geäußert hätten.

Michel Slitinsky, der im Prozess gegen Maurice Papon wegen der Deportation von Juden aus Bourdeaux als gemeinsamer Sprecher der Klägerparteien auftrat (er war als 17jähriger den von Papon organisierten Deportationen durch eine Flucht über die Dächer entronnen), dagegen befürwortet das Urteil von Toulouse: Endlich komme die Mitverantwortung französischer Behörden auf den Tisch. (2)

Anmerkung:
(1) Maurice Papon:
Niemand verkörpert so sehr die Kontinuität des Staatsapparats als (sofern radikalere Brüche ausbleiben) über alle finsteren politischen Zeiten und Regimewechsel hinfort dauernde Machtstruktur, wie er. Niemand repräsentiert sie auf so grauenhafte Weise wie diese Figur.
Maurice Papon organisiert in den Jahren 1942 bis 44, als Sekretär der Präfektur (juristischen Vertretung des Zentralstaats in einem Verwaltungsbezirk) von Bordeaux, die Deportation von annähernd 1.700 Juden aus der südwestfranzösischen Region. 1945 kann er ein, manipuliertes, Zertifikat aus Widerstandskreisen liefern, das seine Eigenschaft als ehemaliges Mitglied der Résistance belegen soll. Später taucht er als Präfekt (Statthalter des im damaligen französischen Département Constantine, im nördlichen Algeriern, wieder auf. Dort zeichnet er sich seine Brutalität bei der Niederschlagung der algerischen nationalen Befreiungsbewegung gegen die französische Kolonialherrschaft aus. Am 17. Oktober 1961 amtiert Maurice Papon als Préfet de police (Entsprechung zum deutschen Polizeipräsidenten) von Paris. Als solcher trägt er die politische Verantwortung für den berüchtigten Polizeieinsatz, bei dem 300 algerische Demonstranten – die der durch Papon über ihre Bevölkerungsgruppe verhängte Ausgangssperre trotzen – mitten in Paris getötet werden. Weitere 11.000 werden verhaftet und in Fußballstadien und Pferderennbahnen, die zu Sammellagern umfunktioniert wurden, interniert. Noch in den späten siebziger Jahren amtiert Papon als Haushaltsminister (1978 bis 81) unter dem bürgerlichen Premierminister Raymond Barre, und betätigt sich zur gleichen Zeit als Lobbyist der argentinischen Militärdiktatur – er fädelt einen französischen Rüstungsverkauf an die Generäle in Buenos Aires ein.
1981 tauchen die ersten belastenden Dokumente über seine Rolle im Zweiten Weltkrieg auf, die durch Michel Slitinsky beigebracht werden konnten und in der Satire und Enthüllungszeitung 'Le Canard enchaîné' veröffentlicht werden./ Aber von da ab wird es noch 15 Jahre dauern, bis Papon 1997/98 in Bordeaux der Prozess gemacht wird. Wegen Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschheit wird er dort zu 10 Jahren Haft verurteilt, und 1999 wird er nach einem ebenso feigen wie erfolglosen Fluchtversuch in die Schweiz dann schlussendlich inhaftiert. Doch "aus Gesundheits- und Altersgründen" bereits nach drei Jahren aus der Zelle entlassen. Heute lebt er im Ruhestand in Gretz-Armainvilliers, in der Nähe von Paris, wo er 1910 geboren worden ist.
(2) Vgl. dazu: http://aquitaine.france3.fr/info/21828293-fr.php

hagalil.com 13-06-2006

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