Wirklichkeit vor Ort:
Rechtschaos in den Palästinensergebieten
Von Ulrich W. Sahm, Jerusalem
Die Festnahme des halben palästinensischen Parlaments und einem Drittel
der Autonomie-Minister, verdeutlicht die verworrene Rechtslage. Ungeachtet
der Frage, ob Israels Schachzug politisch weise oder unvernünftig, gut oder
schlecht war, wirft die Razzia mit richterlichen Haftbefehlen auch
rechtliche Fragen auf.
Die palästinensische Selbstverwaltung, (Autonomie), wurde im Rahmen der
Osloer Verträge 1994 "von Israels Gnaden" geschaffen. Israel übertrug ihr
beschränkte Vollmachten und das Recht, mit einer leicht bewaffneten Polizei
intern für Ordnung zu sorgen. Die Kontrolle der Außengrenzen, die
Landesverteidigung und sogar die diplomatischen Beziehungen mit dem Ausland
blieben bei Israel. Die palästinensischen "Botschaften" in der Welt
repräsentieren nicht die Autonomie. Die "Palästinensischen
Generaldelegationen" vertreten die Palästinensische Befreiungsorganisation
(PLO). Und die diplomatischen Vertretungen in Ramallah sind keine
Botschaften, sondern "Repräsentanzen". Sie sind formal Filialen der
Botschaften in Tel Aviv.
Nach Auffassung des deutschen Völkerrechtlers und Kölner
Universitätsprofessors Bernhard Kempen besitzen auch Repräsentanten von
nicht voll völkerrechtsfähigen Staatsgebilden wie Palästina grundsätzlich
Immunität, berichtet dpa. Doch die Wirklichkeit vor Ort wird dem nicht
gerecht. So verleiht Israel ausgewählten Palästinensern einen VIP-Ausweis,
um die Fahrt vom Westjordanland nach Gaza zu ermöglichen und ihnen eine
bessere Behandlung an den Grenzkontrollen zu garantieren. Die Bevorzugung
ist Coulanz, kein völkerrechtlich verankertes Privileg. Die Hamas-Minister
haben keinen VIP-Ausweis.
Auch in der Vergangenheit hat Israel palästinensische Abgeordnete verhaftet.
Der Prominenteste, Marwan Barghouti, wurde wegen Mordes zu fünffacher
lebenslanger Haft verurteilt. Auf seinem Sessel im palästinensischen
Parlament steht seitdem ein plakatgroßes Portrait. In keinem zivilisierten
Land dürfte ein rechtskräftig verurteilter Mörder die Immunität und das
Abgeordnetenmandat behalten können. Kein Völkerrecht kann zudem Israel
zwingen, einem Mörder seiner Bürger Freizügigkeit, Immunität und VIP-Status
zu gewähren.
Der völkerrechtliche Status der "Autonomie" wird je nach Gusto und Situation
missbraucht. Wenn Israel einmarschiert, wird von einer Verletzung
palästinensischer Souveränität geredet. Wenn aber Palästinenser
"militärische" Angriffe auf israelische Busse oder Restaurants in Tel Aviv
oder Jerusalem verüben, dann läuft das unter "legitimer Widerstand". Auf
Briefköpfen palästinensischer Minister steht "State of Palestine". Aber
selbst nach einem vollständigen Rückzug aus autonomen Gebieten, fordern
Palästinenser vom Staat Israel, weiterhin die volle Verantwortung eines
"Besatzers" zu tragen.
Israel verwickelt sich ebenso in rechtliche Widersprüche. Es hat de facto
alle autonomen Städte im Westjordanland seit April 2002 zurückerobert,
dringt regelmäßig mit Jeeps nach Ramallah oder Nablus ein, will aber, seine
Besatzeraufgaben nicht erneuern und zivile Angelegenheiten wie Schulen oder
das Gesundheitswesen verwalten (und finanzieren). Allerdings wollen die
Palästinenser ebenso wenig ihre errungene Selbstständigkeit und
Machtbefugnisse wieder verlieren.
Das israelische Außenministerium rechtfertigte die Verhaftungen mit dem
offen verkündeten Schulterschluss der Hamas mit den Entführern des Soldaten
Gilad Schalit. Während Hamas-Politiker zunächst behaupteten, weder die
Kidnapper noch das Versteck des Soldaten zu kennen, forderten sie nun selber
die Freilassung von Gefangenen im Tausch für den verschleppten Soldaten. So
verwandelte sich die demokratisch gewählte Regierung der Autonomiebehörde
zum Teilhaber eines grenzüberschreitenden Kriegsakts, eines Terroranschlags
und einer unmoralischen Erpressung. |