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[ZUR DISKUSSION]

Vielfalt anerkennen:
Die Arroganz der Altvorderen

Von Sergey Lagodinsky

Ein Wunder ist dadurch definiert, dass es nur mit einer verschwindend geringen Wahrscheinlichkeit eintritt. Keiner hat bei der Wahl des neuen Präsidenten des Zentralrats der Juden mit einem Wunder gerechnet. Und siehe da, kein Wunder ist eingetreten. Die Gesichter sind die alten geblieben, auch wenn die Reihenfolge der Personen eine andere wird.

Viele werden erleichtert aufatmen: Wie so oft im Leben, sind auch in der Politik die klaren Verhältnisse besser als ein Schwebezustand. Gleichwohl stellen uns die neuen Zustände im Zentralrat, die ja eigentlich die alten sind, vor wichtige Fragen. Was lernt die Öffentlichkeit aus dem neuerlichen Wechsel an der Spitze? Und was gilt es, für den Zentralrat und die neue Präsidentin daraus zu lernen? Wer die Spannungen in der heutigen jüdischen Gemeinschaft endlich auflösen will, muss deren Zustand zunächst unter den Aspekten Legitimation, Integration und Leadership diskutieren. Und das Ergebnis kann nur sein: Eine Gemeinde, die nach außen für Diversität eintritt, muss ihre eigene Vielfalt – in Kultur, Religion und Alterszusammensetzung – endlich auch im Inneren institutionell anerkennen.

Deutlich bewies die Diskussion um die Nachfolge des verstorbenen Paul Spiegel die Legitimationskrise an der Spitze der jüdischen Gemeinde. Diese Krise resultiert aus einer für Kenner offensichtlichen Differenz: Eine Gemeinschaft, die zu 85 Prozent Russisch spricht, wird von einer Spitze verwaltet und vertreten, die weder die Sprache noch die Mentalität dieser Mehrheit versteht. Es ist erstaunlich, wie die jüdische Gemeinde in Deutschland, die sich ja seit eh und je als Avantgarde im Streben nach einer offenen deutschen Gesellschaft versteht, die Fehler der Mehrheitsgesellschaft unbewusst wiederholt. Auch in den jüdischen Gemeinden wird gegenüber Neuankömmlingen genau das propagiert, was so lange in der gesamtdeutschen Gesellschaft angeprangert wurde – das Primat einer "Leitkultur" der Alteingesessenen gegenüber den "Fremden".

Die Zuwanderer werden mit Skepsis und Angst, ja mit einer gewissen oberlehrerhaften Überheblichkeit beäugt. Ihnen wird ausdrücklich oder implizit vorgeworfen, nicht dem Bild der Juden zu entsprechen, das die Gemeinde in Deutschland seit Jahrzehnten gepflegt hat: formell religiös, mit starken Beziehungen zu Israel und mit einem dominierenden Narrativ einer Opfergemeinschaft. Hingegen verstehen sich die "Russen" als ethnische, weniger als religiöse Juden. Ihre Beziehungen zu Israel sind stark, aber die zu ihren Herkunftsländern nicht weniger. Und der Holocaust ist für sie – obwohl sie einst die eigentlichen Zielscheiben von Hitlers Ausrottungspolitik waren – meist in den Kontext des "Großen Vaterländischen Krieges" der Sowjetunion eingebettet.

Diese Juden denken und empfinden mithin anders. Aber auch sie fühlen sich als Juden, und haben sich immer als solche empfunden. Doch passen sie nicht zu dem leitkulturellen Bild der Juden in Deutschland, das die Gemeinden und die deutsche Mehrheitsgesellschaft im Laufe der Nachkriegszeit konstruiert haben.

Auch die gesamte deutsche Gesellschaft erlebt ja eine Renaissance des Leitkulturgedankens: Man will sich auf einen Wertekanon besinnen und vor "fremden Einflüssen" schützen. Warum sollte dieser Diskurs also den jüdischen Gemeinden erspart bleiben? Doch während das Konstrukt einer "Leitkultur" in einer Gesellschaft mit nunmehr 25 Prozent Zuwanderern zumindest plausibel scheint, ist die Idee, die Leitkultur einer Minderheit den übrigen 85 Prozent der Juden in Deutschland aufzuzwingen, nur noch grotesk. Langfristig bedeuten solche Umerziehungsbemühungen, dass Menschen eher von den Gemeinden abgeschreckt werden, anstatt dass sie sich einbinden lassen.

In der Berichterstattung zur Wahl der neuen Präsidentin wurde wiederholt auf das Integrationsproblem hingewiesen. Bezogen auf die jüdischen Gemeinden ist "Integration" jedoch der falsche Begriff. Er lenkt nur ab von den eigentlichen Problemen – aus zweierlei Gründen. Gemeinde-intern kann man eine 85-prozentige Mehrheit von Zuwanderern schon rein logisch nicht in eine 15 Prozent starke ursprüngliche Gemeinde "integrieren".

Statt das Integrationsmantra zu wiederholen, sollte man auf einen intensiven Dialog der Zuwanderungsmehrheit mit der herkömmlichen Minderheit setzen. Der muss auf einer Augenhöhe stattfinden und sich einen neuen Identitätskompromiss zum Ziel setzen. Es geht um eine Gemeinde, die sich neu erfindet. Die jüdische Gemeinde im Deutschland von 2006 kann nicht bloß die fünffache Vergrößerung der Gemeinde von 1989 sein. Nicht nur die Größe hat sich verändert, sondern die Substanz. Nun müssen diese Fakten anerkannt werden.

Die größte Herausforderung für die jüdische Gemeinschaft heute ist in Wahrheit die Förderung von Führungseliten. Es kann nicht sein, dass die Diskussion um die Nachfolge Paul Spiegels eine abgespeckte Variante ähnlicher Diskussionen um die Nachfolge von Ignatz Bubis darstellt. Die Altersstruktur der Führungsspitze ist ebenso sichtbar wie ihr monokultureller Hintergrund: Beides stellt sich mittlerweile ganz offensichtlich als Manko heraus. Eine langfristige Gemeindeführung ist nicht möglich, wenn Einwanderer dort genauso unwillkommen sind wie jüngere Juden, ganz gleich welcher Herkunft.

Ein Teil der Führungskrise resultiert aus dem Mangel am gesellschaftlichen und politischen Engagement unter den zugewanderten Neumitgliedern selbst. Es fällt den ehemaligen Bürgern aus den im Übergang befindlichen Gesellschaften Osteuropas schwer, sich demokratische Werte der deutschen Gesellschaft anzueignen, und erst recht, von ihnen Gebrauch zu machen. Viele von ihnen lassen oft die Fähigkeiten und den Willen vermissen, professionell an der Gestaltung des institutionellen Gemeindelebens mitzuwirken. Auch dort gibt es einen deutlichen Nachholbedarf.

Aber die bestehenden Gemeindestrukturen müssen den Menschen von der Basis – ganz gleich, wo sie geboren wurden – mehr Respekt entgegenbringen. Und es muss über neue Führungsstrukturen nachgedacht werden. Diese müssen die in unseren Gemeinden herrschende Vielfalt von Identitäten, Kulturen und Religionsströmungen realistisch widerspiegeln. Nur dann lässt sich die bewundernswerte Persönlichkeit der neuen Präsidentin durch die bewundernswerte Lebendigkeit ihrer Gemeinde ergänzen. Und umgekehrt.

[ZUR DISKUSSION]

Sergey Lagodinsky wurde 1975 in Astrachan an der Wolga geboren. 1993 kam er nach Deutschland. Er war bis vor kurzem Programmdirektor im Berliner Büro des American Jewish Comitee.

Zuerst erschienen in:
Süddeutsche Zeitung vom 10.06.2006

hagalil.com 27-06-2006

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