Schunkeln, singen, Fahnen schwingen:
Deutschland, Deutschland!
Von Deniz Yücel
Jungle World 25 v.
21.06.2006
Wenn man nicht mehr weiter weiß, kann man immer noch Mama
fragen. Mama sagt: "Die deutschen Fahnen machen mir nichts aus. Damals, als
die Deutschen sich vereinigt und auch noch im Fußball gewonnen haben, war es
schlimm. Da hatte ich bei jeder Fahne das Gefühl: Die richtet sich gegen die
Unsrigen. Das ist jetzt anders. Die Çeviks von gegenüber haben sogar die
deutsche Fahne gehisst. Und meine kleine Enkelin hat sich die Wangen
schwarz-rot-gold bemalt. Ist doch okay."
Es ist beruhigend, dass Mama nicht beunruhigt ist. Auch ich muss gestehen,
dass ich nichts von der Aggression und der Beunruhigung verspüre, die mich
vor nicht allzu langer Zeit bei dem Anblick eines solchen Fahnenaufgebots
ergriffen hätten. Sogar die Gewohnheit, aus vorauseilender Schadenfreude und
vorbeugender Pogromabwehr der deutschen Mannschaft immerzu ganz unsportlich
Pest, Cholera und das Vorrundenaus an den Hals zu wünschen, hat sich
verflüchtigt, ich ertappe mich sogar dabei, ihrer unterhaltsamen, man möchte
fast sagen: undeutschen Spielweise Lob zu zollen.
Dabei gibt es in meiner Erinnerung (und ich denke: nicht nur in meiner) ein
Bild, das deutschen Rassismus und deutsche Erfolge im Fußball verdichtet:
der berühmte feixende Deutsche nämlich, der beim Pogrom von
Rostock-Lichtenhagen im Herbst 1992 fotografiert wurde, mit der linken Hand
die Bierdose umklammernd, die rechte zum Hitlergruß erhoben, mit
vollgepinkelter Jogginghose und gehüllt in das gleiche Trikot, in dem
Matthäus-Klinsmann-Völler zuvor Weltmeister geworden waren.
Der Übergang von der deutschtümelnden Vereinigungseuphorie zum rassistischen
Mord und Totschlag war fließend vonstatten gegangen, mit einigem Recht
durften sich die Neonazis als Vollstrecker dessen betrachten, was alle
dachten und wollten, nämlich die "Asylantenflut" zu stoppen. Derweil
überwand Deutschland die Nachkriegszeit, und in einem atemraubenden Tempo
schien eine politische und moralische Beschränkung nach der anderen zu
fallen. Das Land meldete Ansprüche an, künftig in aller Welt mitzureden und
notfalls auch einzumarschieren.
"Wir sind über Jahre nicht mehr zu besiegen. Es tut mir leid für den Rest
der Welt, aber es ist so", prahlte der damalige Teamchef Franz Beckenbauer
nach dem Sieg im Finale von Rom im Jahr 1990, und für mich und
meinesgleichen, die in diesem "Wir" entweder gar nicht vorgesehen waren oder
sich lieber als "Rest der Welt" denn diesem "Wir" zugehörig verstanden
wissen wollten, war es niederschmetternd und furchterregend, dass manches
dafür sprach, diese großkotzige Ankündigung könne leider nicht nur im
Fußball wahr werden.
Es kam anders. Hristo Stoitchkov und Yordan Letchkov, später noch mal Davor
Suker belehrten Beckenbauer gottlob eines besseren, auch politisch entstand
etwas anderes als ein "Viertes Reich". Andere westliche Staaten schlossen
sich der deutschen Politik auf dem Balkan an, die nationalsozialistische
Vergangenheit wurde nicht entsorgt, sondern zum Kernbestand einer neuen
nationalen Identität erhoben.
Die Einwanderer mögen zwar immer noch Gegenstand von sozialtechnischen
Maßnahmen sein, aber daran, dass sie zu diesem Land gehören, zweifelt
niemand mehr, außer ein paar Nazis. Und wer sich als Antisemit zu erkennen
gibt, wird in den Medien mit einer Einhelligkeit kritisiert, die noch die
Einhelligkeit übertrifft, die beim Ruf nach einem "Umbau des Sozialstaates"
zu hören ist. Andererseits kann bei vollem Verstande auch niemand behaupten,
das Gegenteil wäre wünschenswerter.
Was aber folgt daraus? Gibt es noch immer einen Grund, den deutschen
Nationalismus im Besonderen abzulehnen, einen Grund, der darüber hinausgeht,
dass der Nationalismus hierzulande uns mehr beschäftigen muss als ein
Nationalismus anderswo? Handelt es sich bei diesem Wandel nur um Propaganda?
Haben, zumindest auf absehbare Zeit, Rassismus und Antisemitismus,
tatsächlich die Aussicht, von einer Stammtisch-Folklore zur Staatsideologie
zu werden? Künden die Reibereien zwischen Deutschland und den USA von
künftigem Unheil? Ist das deutsche (besser: europäische) Grenzregime, so
inhuman es ist, wirklich rassistisch? All dies zu verneinen, bedeutet
jedenfalls nicht zwingend, sich im Autokorso einzureihen.
Natürlich, wer das hässliche Deutschland sucht, wird es auch in diesen Tagen
finden. Sicher gibt es unschöne Szenen, und vermutlich wird es davon noch
mehr geben. Sicher titeln die Dröhndeutschen von der Bild-Zeitung
"schwarz-rot-geil" und verfasst Franz-Josef Wagner in Fraktur "Liebesbriefe
an Deutschland". Aber sind diese Dinge wirklich charakteristisch für die
derzeitige Stimmung? Ist die Begeisterung für die WM und für die deutsche
Nationalmannschaft viel mehr als (halborganisierte, halb spontane)
Partylaune?
Wäre es nicht ebenfalls befremdlich, wenn die Gastgeber eines solchen
Spektakels nicht feiern, hupen und mit Wimpeln herumwedeln würden? Sehen
deutsche Sozialpädagoginnen in brasilianischen Tops und deutsche Studenten
mit England-Fahnen wirklich vorteilhaft aus? Ist es nicht bemerkenswert,
dass zahlreiche Deutsch-Türken, Deutsch-Araber etc. sich am munteren
Fahnenschwenken beteiligen? Sind Odonkor, Asamoah, Klose, Podolski und
Neuville nicht ein passabler Ausdruck davon, dass die völkische deutsche
Nation sich allmählich zu einer republikanischen wandelt?
Es sind dies nicht die einzigen Fragen, die man dieser Tage stellen kann.
Eine etwas aus der Mode gekommene linke Tradition besteht darin, nach
Klassen zu fragen, wenn einer von der Nation daherredet. Doch
aufschlussreich könnte es sein.
Gewiss wehen in Kreuzberg oder Neukölln neben deutschen Fahnen auch
zahlreiche andere. Wer aber in diesen Tagen durch Berlin fährt, wird
feststellen, dass die Grenze nicht zwischen Kreuzberg und Marzahn verläuft,
sondern zwischen Kreuzberg/Marzahn und dem Grunewald. Dort, wo das Berliner
Bürgertum wohnt (gut, sagen wir: wo die Berliner mit Patte wohnen), erblickt
man eher einen Gartenzwerg im Vorgarten als eine deutsche Fahne. Jede Wette,
dass eine quantitative Studie folgende Formel bestätigen würde: Je Stütze,
desto Fahne. Es sind gerade diejenigen, die auf eine Alimentierung durch den
Staat angewiesen sind, die sich an seine Symbole klammern, obwohl sie von
ihm immer weniger zu erwarten haben.
In der vorigen Woche wurde endgültig die Erhebung der Mehrwertstuer
beschlossen, die größte Anhebung einer allgemeinen Verbrauchssteuer in der
bundesdeutschen Geschichte. Zugleich wurde darüber beraten, die
Unternehmenssteuer zu senken. Und vielleicht wird noch vor dem WM-Finale
eine Gesundheitsreform beschlossen, die eine schon stattfindende Entwicklung
beschleunigen wird, nämlich dass man es den Leuten wieder an den Zähnen
ansehen wird, aus welchen Verhältnissen sie kommen. Niemand wird mit einem
verfaulten Gebiss Weltmeister. Aber vielleicht lässt einen das eine das
andere vergessen. Ein paar Wochen lang zumindest.
Und ich gestehe: Auch ich habe in den letzten Tagen aufgeregter über
deutsche Fahnen und afrikanischen Fußball geredet als darüber, dass Lebbe
nicht nur weitergeht, sondern teuer wird.
hagalil.com
22-06-2006 |