Militäraktionen gegen Extremisten:
Opfer diktieren Politik im Nahost-Konflikt
Israel hat sein Image durch Angriffe
auf palästinensische Zivilisten stark beschädigt. Auch die meisten Israelis
sind inzwischen der Ansicht, dass Militäraktionen Extremisten keinen Einhalt
gebieten können. Eine Analyse.
Von Igal Avidan
Erschienen in: Netzeitung v.
15. Juni 2006
Dschamal Abu Samhadana war ein gesuchter palästinensischer
Extremist. Nach israelischen Angaben war der Führer der militanten
Volkswiderstands- Komitees (PRC) und zuletzt auch Sicherheitschef der
Hamas-Regierung im Gazastreifen an der Ermordung israelischer Kinder, einer
schwangeren Mutter sowie amerikanischer Sicherheitsbeamten beteiligt.
Für seine Terroraktionen erhielt Samhadana, der auch in
Deutschland gelebt hatte, Unterstützung aus dem Iran. Er wurde durch einen
Luftangriff am 8. Juni bei der Bombardierung eines Ausbildungslager der PRC
getötet. Abu Samhadana habe gerade die letzten Vorbereitungen für einen
Terroranschlag in Israel überprüft, hieß es. 30.000 Palästinenser nahmen an
seine Beerdigung in Rafah teil und schworen Rache.
Am kommenden Tag schlugen 16 Kassam-Raketen in Israel ein.
Und zum ersten Mal seit 16 Monaten übernahm die Hamas öffentlich die
Verantwortung für den Beschuss, der keinen Schaden hinterlassen hatte. Damit
endete nach 16 Monaten der Waffenstillstand zwischen der Hamas und Israel.
"Das ist nur der Anfang", verkündete ein Hamas-Sprecher und kündigte weitere
Anschläge "im Herzen des zionistischen Gebiets" an.
Die Eskalation war damit programmiert, ebenso die Tötung
unschuldiger Palästinenser, darunter Kinder. Die rührenden Fernsehbilder der
zwölfjährigen Palästinenserin, die in den Sanddünen von Gaza ihre Mutter und
Vater sucht, konnten keinen anständigen Israeli kalt lassen. Nach Sekunden
entdeckt Huda Ralia die Leiche ihre Vaters und schreit: "Mein Vater ist
tot", während sie sich aus Verzweiflung schlägt.
Welt hält Israel für verantwortlich
Die Mitteilung der israelischen Armee drei Tage später, dass
die sieben Familienangehörigen nicht durch eine israelische Granate starben,
überzeugt nicht einmal die israelische Öffentlichkeit. Die Welt hält Israel
für verantwortlich, und ein enormer Imageschaden ist entstanden. Am gleichen
Tag starben elf weitere Palästinenser bei einem Luftangriff, darunter zwei
Kinder.
Sogar der palästinensische Präsident Mahmud Abbas, der einzige potenzielle
Gesprächspartner, sprach von "Staatsterrorismus". Israel setzte allerdings
keine Katjuscha-Raketen ein, die eine wesentlich längere Reichweite und
Genauigkeit haben als die Kassam und daher für Israel bedrohlicher sind.
Aber die Fernsehzuschauer interessieren sich kaum für solche technische
Details in diesen WM-Tagen.
Israel kann nicht tatenlos den Abschuss von 300 Raketen hinnehmen, 17
Raketen allein an einem Tag. Dass bei diesen Angriffe bisher "nur" ein
Mensch schwer verletzt wurde, ändert daran nichts. Aber bei den israelischen
Angriffen auf Gaza Stadt gibt es immer mehr zivile Opfer, und die
aufgebrachten Palästinenser fordern Rache. Sie können und wollen nicht die
eigenen Extremisten für das Blutvergießen verantwortlich machen.
Angriffe trotz Vorbehalten fortgesetzt
Zwei Drittel der Israelis sind laut einer neuen Umfrage der Ansicht, dass
militärische Aktionen den Terror nur einschränken, aber nicht ausmerzen
können. Aber nur sieben Prozent von ihnen meinen, diese Aktionen verstärken
den Terror.
Der erste zivile Verteidigungsminister seit Jahren, Amir Peretz, äußerte
beim Amtsantritt gleiche Positionen. Aber seitdem die Armeeführung ihn
umstimmte, ging der israelische Beschuss weiter. Und auch das Oberste
Gericht vermochte die Militäraktionen nicht zu verbieten.
Hamas will Chaos schüren
Die Hamas-Regierung hat ein Interesse an der Eskalation, auch auf Kosten der
eigenen Bevölkerung. Dieses Chaos könnte vielleicht das totale Versagen der
neuen Regierung kaschieren, die die Palästinenser in einen desolaten
wirtschaftlichen Zustand, in die politische Isolation und an den Rand des
Bürgerkriegs geführt hat.
Der starke Sympathieverlust in den Umfragen und bei den letzten Wahlen der
Studentenschaften war ein klares Signal. Aber durch Chaos kann man die
Volksabstimmung des Präsidenten Abbas über eine Zwei-Staaten-Lösung
verhindern, die eine überwältige Mehrheit der Palästinenser befürwortet. Und
durch Chaos kann Hamas gegen den neuen radikaleren Konkurrenten im
Gazastreifen punkten: "Al Qaeda Palästina".
Fatah wird radikaler
In Gaza-Stadt kursiert inzwischen eine neue Videobotschaft des
Stellvertreters von Terroristenchef Osama bin Laden, Aiman al Sawahiri, der
sich gegen die Volksabstimmung stellt. Die israelischen Angriffe führen auch
zu einer Radikalisierung der gemäßigten Fatah-Aktivisten, die zum ersten Mal
Selbstmordanschläge befürworten.
In Israel profilieren sich ebenfalls die Hardliner. Politiker fordern
bereits eine Bodenoffensive im Norden des Gazastreifens, die Siedler reiben
sich schadenfroh die Hände, weil die Hamas nach ihren Horrorszenarien
spielt. Ein israelischer Minister drohte sogar den palästinensischen Premier
Ismail Hanija zu liquidieren, sollte der Beschuss auf israelisches Gebiet
nicht aufhören. Und von weiteren Räumungen von Siedlungen redet keiner mehr.
Die Hamas hat nach den Drohungen Israels gegen Hanija inzwischen die
Raketenangriffe eingestellt, wobei andere extremistische Gruppen wie der
Islamische Dschihad mit dem Terror fortfahren. Es ist erfreulich, dass
Hanija die Drohungen eines Staates ernst nimmt, den er gar nicht anerkennt,
und dass er ungern ein Märtyrer sein will. Sollen andere Palästinenser ihr
Glück im Paradies suchen.
Moderate Töne von Hamas-Regierung
Ein Berater Hanijas hatte bereits verkündet, dass die
Palästinenserregierung nicht beschlossen habe, Selbstmordanschläge wieder
aufzunehmen. Zudem würden solche Anschläge der Regierung nicht nutzen. "Der
Militärflügel der Hamas hat darüber entschieden, nicht die Politiker", sagte
Achmad Jusef. Interessanterweise sprach auch Peretz von einem indirekten
Dialog mit "der politischen Hamas", um die Waffen ruhen zu lassen.
Für zwei Partner, die die Existenz des jeweils anderen nicht
anerkennen, scheint dieser Dialog überraschend zu sein. Jusef befürwortet
auch solche Gespräche, fordert aber zugleich, dass diese der
palästinensische Präsident führen müsse. Wird hiermit Abbas' politisches
Grab vorbereitet? Für den Fall, dass seine Volksabstimmung am 26. Juli
scheitern sollte, wäre er ohnehin politisch am Ende. Und mit ihm der letzte
prominente palästinensische Gesprächspartner.
hagalil.com 16-06-2006 |