Öffnung des Arolsen-Archivs:
"Der Druck aus den USA war entscheidend"
Der Historiker Ulrich Herbert
begrüßt die Freigabe der Arolsen-Akten - und fürchtet, dass sie für
die NS-Forschung zu spät kommt
Interview: Stefan Reinecke
taz: Herr Herbert, was bringt die Öffnung des
Arolsen-Archivs für die NS-Forschung?
Ulrich Herbert: Viel. Es geht um personenbezogene
Akten von KZ-Häftlingen - und um Akten über die innere Struktur von
KZs. Viele dieser Akten gibt es nur in Arolsen. Deshalb war die
internationale Historikerzunft schon seit vielen Jahren emsig
bemüht, diese Bestände anschauen zu dürfen. Das wurde aber stets
verwehrt.
Und warum ist das jetzt anders?
Weil US-Institutionen politisch und moralisch Druck gemacht haben -
was ich richtig finde. Und dieser Druck war so groß, dass die
deutsche Seite nachgeben musste.
Der Leiter des Holocaust Memorial Museums in Washington hat
gesagt, die Akten in Arolsen wegzusperren sei eine "Art der
Holocaust-Leugnung". Brauchte es solche Holzhammer-Rhetorik, um
etwas in Gang zu bringen?
Das weiß ich nicht. Auf jeden Fall war hilfreich, dass das Holocaust
Museum sich um die Akten gekümmert hat. Die Historiker haben immer
gesagt, dass die Akten zur Erforschung der KZs notwendig sind. Aber
das hat nichts bewirkt.
Warum eigentlich nicht?
Der Protest der Historiker wurde als eine Art Berufsproblem
abgehakt. Außerdem hat der ITS Arolsen stets argumentiert, dass er
ein Suchdienst und kein Archiv sei. Obwohl sich die Rolle des
Suchdienstes seit den 80ern erledigt hatte, wollte der ITS nicht zum
Archiv werden. Denn dann wäre der Personalbestand nicht mehr zu
halten gewesen.
Die Akten blieben also wegen des Eigeninteresses des ITS unter
Verschluss?
Ja. Der Widerstand richtete sich dagegen, von einer operativen in
eine archivarische Institution umgewandelt zu werden - so ähnlich,
wie es auch mit der Birthler-Behörde irgendwann passieren wird.
Vielleicht stießen die Versuche der Historiker, das Archiv zu
öffnen, deshalb beim ITS auf so taube Ohren. Denn der Historiker
kommt ja, wenn eine Institution nicht mehr lebt. Er ist
gewissermaßen der Bestatter, der auftaucht, wenn die aktuelle Rolle
einer Institution ausgespielt ist.
Und damit wollte sich der ITS nicht abfinden?
Ich vermute das. Anfang der 90er-Jahre hat der ITS über die
russische Organisation Memorial den Zugriff auf hunderttausende von
Briefen von ehemaligen Zwangsarbeitern bekommen. Da war der ITS,
sonst eine äußerst gemächlich arbeitende Institution, plötzlich
höchst engagiert und hat sich sofort Kopien der Briefe besorgt.
Warum? Weil er damit wieder eine Funktion als Suchdienst spielen
konnte.
Der ITS hat den Aktenverschluss stets mit Datenschutz begründet.
Zu Recht?
Nein. Es gibt klare gesetzliche Regelungen, die zum Beispiel den
Umgang mit Akten der Zentralstelle für NS-Verbrechen in Ludwigsburg
regeln. Das Gleiche soll auch für Arolsen gelten.
Eine völlige Freigabe der Akten halten Sie also für falsch?
Ja. Die Idee, hunderttausende von Opferakten ins Netz zu stellen,
ist abwegig. Es geht doch um schützenswerte Daten. Darin kann
durchaus etwas über sexuellen Vorlieben stehen - das hat in der
Öffentlichkeit nichts verloren.
Wird die Öffnung von Arolsen die NS-Geschichtsschreibung
verändern?
Es ist erst mal schade, dass die Öffnung so spät kommt. Denn viele
wichtige Arbeiten der KZ-Forschung mussten in den 90er-Jahren ohne
diese Daten verfasst werden. Ob es nun ein zweite Welle von
Publikationen zu KZs geben wird, das scheint mir angesichts des
nachlassenden öffentlichen Interesses an NS-Forschung fraglich zu
sein. Abdruck mit
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13-06-2006 |