Deutschland – Polen – Russland:
Rasender Hass führt zu offener Gewalt
Niemandem, der in den letzten Tagen
in den Medien die Nachrichten verfolgte, konnte es unbemerkt bleiben: Hass
auf Minderheiten, auf "Andere", die nicht irgendeiner Wahnvorstellung von
"Norm" oder "Leitkultur" entsprechen, führt in der logischen Konsequenz zu
Gewalt gegen Menschen. Wo aber bleibt der "Aufstand der Anständigen", die
Positionierung der Mehrheitsgesellschaft?
Von Jörg Fischer
Am sogenannten "Herrentag" kam es wieder zu mehreren neonazistischen
Gewalttaten vor allem gegen MigrantInnen. Das ist nichts ungewöhnliches, das
machen die selbsternannten "Herrenmenschen" jedes Jahr am "Herrentag", und
auch an anderen Tagen. Erstaunlich war höchsten die gespielte "Überraschung"
von Teilen der Medien und der etablierten Politik.
Am 28.5. wurde, zum gleichen Zeitpunkt also, als Papst
Benedict in Polen weilte, in der Warschauer Innenstadt Michael Schudrich,
der Oberrabbiner Polens, angegriffen, geschlagen und leicht verletzt. Von
dem Täter, einem etwa 26 Jahre alten Mann, fehlt bislang jede Spur. Seit den
letzten Parlamentswahlen gibt es in Polen eine Regierung, in der
Rechtsextremisten und offene Antisemiten sitzen. Verwundert es da, wenn sich
Nazischläger nicht nur bestärkt von einem unterstellten "Volkswillen",
sondern quasi legitimiert durch eine entsprechende Regierung fühlen?
Ortwechsel. Am 27. Mai wollten Homosexuelle in Moskau für
Gleichberechtigung demonstrieren, aus Deutschland war zur Unterstützung der
Bundestagsabgeordnete Volker Beck angereist. Bereits im Vorfeld war klar:
Neonazis und Fundamentalisten drohten mit offener Gewalt, die Behörden
zeigten keinerlei Interesse daran, die Demonstration zu schützen. Im Vorfeld
hatte u.a. der Großmufti von Moskau öffentlich zu Gewalttaten und zur
Ermordung Homosexueller aufgerufen. Und
tatsächlich: Die kleine Gruppe von Schwulen und Lesben wurde von Neonazis
angegriffen, die abwechselnd den Hitlergruß zeigten und Steine warfen. Vor
laufenden Fernsehkameras wurde Beck von einem Stein getroffen und mit der
Faust ins Gesicht geschlagen. Über die bezeichnende Reaktion des
"offiziellen Russlands" auf die Ausschreitungen berichtete n-tv.de: "Im
russischen Parlament bezeichnete ein Sprecher die öffentliche Versammlung
der Schwulen und Lesben als "Provokation" und lobte das Vorgehen der
Polizei. "Man sollte sein abweichendes Verhalten von allgemein akzeptierten
Normen nicht öffentlich zur Schau stellen und das auch noch als
Menschenrecht darstellen", sagte der Leiter des Ausschusses für Wissenschaft
und Kultur im Föderationsrat, Viktor Schudegow der Agentur Itar-Tass." Nach
bisherigem Kenntnisstand hüllt sich freilich auch die Bundesregierung in
Schweigen. Kein Protest des deutschen Botschafters in Moskau, keine
Protestnote an den russischen Botschafter in Berlin. Ganz im Gegenteil: Der
CDU-Fraktionsvize im Bundestag, Andreas Schockenhoff, gab Beck sogar eine
"Mitschuld" an den Übergriffen. Mit
großer Spannung wird nun nach Warschau geblickt. Dort findet am 10. Juni die
"Gleichberechtigungsparade" statt, die öffentliche Demonstration von
Schwulen und Lesben. Mehrere Schwulen- und Lesbenorganisationen aus der
Bundesrepublik Deutschland haben bereits zahlreiche Reisebusse angemietet
und mobilisieren massiv zur unterstützenden Teilnahme an der Warschauer
Demonstration. Dessen ungeachtet haben im Vorfeld bereits mehrere polnische
Politiker Gewalttaten gegen die Schwulen- und Lesbendemonstration
angekündigt. Der Vize-Vorsitzende der
polnischen Regierungspartei Liga Polnische Familie (LPR), Wojciech
Wierzejski, hat dazu aufgerufen, Menschen, die an der Warschauer
Gleichberechtigungsparade am 10. Juni teilnehmen wollen, mit Gewalt daran zu
hindern. "Die Warschauer Behörden dürfen diese Demonstration nicht erlauben.
Man sollte auch keine Kundgebung zulassen, weil das die Verbreitung der
Perversion und Pathologie bedeutet. Falls die Perversen anfangen zu
demonstrieren, sollte man sie mit Knüppeln verprügeln", so Wierzejski in
einem Kommentar für die Tageszeitung "Zycie Warszawy".
Erschreckende Statistik
Aber zurück nach Deutschland, dem Land der "aufständigen
Anständigen": In einem aktuellen Artikel des Internetmagazins
"mut-gegen-rechte-gewalt.de" heißt es: "In einer gemeinsamen statistischen
Erhebung ziehen die acht vom Bundesprogramm CIVITAS geförderten Projekte zur
Beratung von Opfern rechtsextremer Straf- und Gewalttaten Bilanz für 2004:
Bei 551 Angriffe kamen 822 Menschen zu Schaden." Wohl gemerkt: Hier handelt
es sich nur um die bekannt gewordenen Zahlen und nur um jene aus den neuen
Bundesländern und Berlin. Hinzu kommt also noch die Dunkelziffer und die
Fälle rechter Gewalt aus den alten Bundesländern. 26 dieser Opfer waren
übrigens unter 13 Jahre alt – also noch Kinder.
Wenn die Politik neonazistische Gewalt zur Kenntnis nimmt, so
reagieren Teile von ihr oftmals mit wohlklingender Betroffenheit – und nicht
selten auch mit Verharmlosung. Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit, so
die stereotypen Worthülsen, würden die neonazistischen Täter, die stets als
"Einzeltäter" dargestellt werden, zu ihren Verbrechen treiben. Das ist etwas
sehr vereinfacht, etwas sehr kurzgegriffen. Würde nämlich jeder, der
erwerbslos ist, zum rassistischen Schläger oder Brandstifter, dann würden
etwa in den Berliner Stadtteilen Neukölln, Wedding oder Moabit jeden Tag
ganze Straßenzüge und Häuserblocks in Flammen stehen.
Neonazis und ihre Handlanger verüben ihre Gewalttaten
aufgrund ihrer menschenverachtenden Ideologie gegen ihre Feindbilder, gegen
Menschen, die nicht in ihre Wahnvorstellung einer "deutschen Norm" oder
"deutschen Leitkultur" passen: Gegen Menschen mit einer anderen Hautfarbe,
gegen Menschen mit einer anderen Religion, wie z.B. gegen Jüdinnen und
Juden, gegen Menschen mit einer anderen politischen Überzeugung, gegen
Menschen mit Behinderung.
Immer wieder muss sich man sich vor Augen führen: Hinter den nackten Zahlen
der Statistiken stehen Menschen, Einzelschicksale, Familien. "Der Worte sind
genug gesagt, nun laßt uns endlich Taten sehen." (J. W. von Goethe)
hagalil.com 29-05-2006 |