Zwischen Realität und Propaganda:
Wie echt ist die palästinensische Finanzkrise?
Von Ulrich W. Sahm, Jerusalem
"Erstmals seit Jahrzehnten müssen die Menschen im
Gazastreifen für Brot und Medikamente anstehen", klagt die katholische
Hilfsorganisation Caritas. Seit März haben die 160.000 Beamten des
Staatsapparats der palästinensischen Autonomiebehörde keine Gehälter mehr
gesehen. "Über eine Million Seelen hängen von diesen Geldern ab."
Besorgt über eine "Hungersnot" suchen Beamte der EU verzweifelt nach Wegen,
Gelder in die Palästinensergebiete zu schleusen, unter Umgehung der
Hamas-Regierung, solange die nicht europäische Bedingungen für politisches
Wohlverhalten akzeptiert. "Das Volk darf nicht für das Ergebnis der
demokratischen Wahlen gestraft werden", sagen palästinensische Politiker.
Die UNO-Flüchtlingshilfeorganisation UNWRA und das Internationale Rote Kreuz
warnen vor einer "bevorstehenden Krise". Noch sei sie aber nicht
eingetreten.
Mal wieder fällt es schwer, zwischen Realität, Propaganda und politischem
Druck zu unterscheiden. Niemand bezweifelt, dass eine humanitäre Krise in
den Palästinensergebieten katastrophale Folgen haben kann, jenseits des
ohnehin bestehenden Chaos und Machtkampfes zwischen der weltlichen Fatah und
der islamistischen Hamas. Jordaniens König Abdullah warnte am Wochenende den
amerikanischen Präsidenten vor der Gefahr eines "Überschwappens" des
Konflikts nach Jordanien. Auch Ägypten und Israel hätten Schlimmstes zu
befürchten.
Dennoch: Wie echt ist diese Krise? Wer blindlings den Behauptungen glaubt,
dass die Palästinenserbehörde bankrott sei, verfügt über ein kurzes
Gedächtnis und hat die Vorgänge vergessen, als Jassir Arafat in Paris auf
dem Sterbebett lang. Damals wurde die extravagante Kaufsucht von Suha Arafat
und eine angebliche monatliche Apanage in zweistelliger Millionenhöhe
breitgetreten. Es wurde auch über Arafats 3 Milliarden Dollar Privatvermögen
geredet, das den Palästinenserpräsidenten mit Fidel Castro, der britischen
Königin und Saddam Hussein in der Zeitschrift Forbes zu einem der reichsten
Herrscher der Welt machte. Niemand redet mehr über diese Gelder. Die PLO,
deren Vorsitzender heute Mahmoud Abbas ist, investierte in der algerischen
Telekommunikationsgesellschaft und in Holdinggesellschaften in Südamerika.
Da die Autonomiebehörde dank der Spenden der Geberländer, ihre Rücklagen
nicht anrühren musste, dürften diese Gelder noch vorhanden sein. Etwa zehn
Milliarden Dollar flossen seit 1993 vor Allem aus der EU in die
Palästinensergebiete. "Etwa 5 Milliarden Dollar verschwanden in den Gullis
und wir wissen nicht wohin", gestand Muhammad Dahlan im August 2004 im
Guardian.
Arlene Kushner vom "Zentrum für Nahost Politik" berichtet zudem von dem
Palestinian Investment Fund (PIF), 2002 von Finanzminister Salam Fayad
eingerichtet, mit einem Teil des Vermögens von Jassir Arafat. Mustafa
Muhammad, Chef des Fonds, in dem noch eine Milliarde Dollar liegen müssten,
habe 300 Millionen Dollar an die Autonomiebehörde ausgezahlt. Angeblich hat
Mahmoud Abbas die Kontrolle über PIF. Kenner der wahren Finanzlage der
Palästinenser bestätigten anonym: "Die Finanzkrise ist künstlich."
Als noch die Gelder flossen und üppige Villen in Ramallah aus dem Boden
schossen, floss weiterhin offene Kloake durch zwei Meter breite Gassen in
Flüchtlingslagern im Gazastreifen. Die Palästinenser erhielten seit
Einrichtung der Autonomiebehörde 1993 pro Kopf gerechnet vier Mal so viel
ausländische Finanzhilfe wie die Europäer nach dem Zweiten Weltkrieg
Marshall-Plan-Hilfe. Keine einzige palästinensische Stadt befand sich 1993,
nach dem Abzug der israelischen Besatzer, auch nur annähernd im Zustand von
Rotterdam, Hamburg, Berlin, Köln oder Dresden 1945. Dank dem Marshall-Plan
wurde im schnell wiederaufgebauten Europa knapp zehn Jahre später von einem
Wirtschaftswunder geredet. Die Palästinensergebiete wirken heute, trotz der
enormen Hilfe, schlimmer heruntergewirtschaftet als nach jahrzehntelanger
britischer, jordanischer, ägyptischer und israelischer Besatzung. An der
israelischen Besatzungspolitik allein kann es nicht liegen, da Israel dort,
wo diese Gelder hingeflossen sind, nach seinem Truppenabzug kaum oder keinen
Einfluss mehr hatte. |