Interreligiöse Ehen:
Mit gespaltener Zunge
Editorial von Yves Kugelmann, Tachles, 5. Mai 2006
Rassismus. Es war
an der Delegiertenversammlung des Schweizerischen Israelitischen
Gemeindebundes (SIG) im Jahre 2004: Die Kandidatur für die Geschäftsleitung
der Lausannerin Martine Fiora-Guttmann, die in einer interreligiösen Ehe
lebt, entfacht eine rassistische und unwürdige Diskussion. Kaum jemand
schreitet ein, schon gar nicht jene, die jeweils lautstark ausrufen, wenn
Juden ausgegrenzt werden, und den Kampf gegen Antisemitismus als oberste
Doktrin auf die jüdische Agenda gesetzt haben. Verwunderlich und schändlich
angesichts der Tatsache, dass nicht wenige im Saal das oftmals
herabwürdigend benannte Thema "Mischehen" aus dem engsten Familienkreis
bestens kennen. Doch es wurde und wird geschwiegen, zugelassen und
zugeschaut. Auch damals, als eine ähnlich rassistische Diskussion im Vorfeld
der Abstimmung zur Aufnahme der liberalen Gemeinden in den politischen
Dachverband SIG die Glaubwürdigkeit der Schweizer Juden aufs Spiel setzte.
Nicole Poëll, Präsidentin der Jüdischen Liberalen Gemeinde Or Chadasch,
sprach von jüdischem Antisemitismus. Nicht weniger als das ist es auch, was
laufend im Gemeindealltag geschieht. Die Art innerjüdischer Ausgrenzung von
Juden und Nichtjuden, die spätestens seit der "Kontroverse Vogt" in der
Israelitischen Cultusgemeinde Zürich (ICZ) in den 1990er Jahren manifest ist
und die Einheitsgemeinden tief spaltet, hat inzwischen Gruppierungen – wie
etwa die Offene ICZ, Migwan, Ofek, Chawura – entstehen lassen (vgl. Artikel
Seite 6), die versuchen, das Thema anzugehen.
Glaubwürdigkeit.
Interreligiöse Partnerschaften sind seit Jahrzehnten eine Realität. Weltweit
und ebenso in der Schweiz, wo Schätzungen von einer Rate von 30 bis 50
Prozent ausgehen. Während die einen in fragwürdiger Weise vom "zweiten
Holocaust" sprechen, versuchen die anderen, gesellschaftliche Lösungen zu
finden, die keine Abkehr vom jüdischen Gesetz bedeuten. In der Schweiz
erstaunt allerdings, dass die Einheitsgemeinden nicht offen auf das Thema
zugehen, und stattdessen riskieren, dass gesellschaftliche Ausgrenzung von
nicht jüdischen Partnern, die Abwanderung beziehungsweise Austritte von
Gemeindemitgliedern und viel Leid in Familien etabliert werden. Gerade die
öffentlich-rechtlich anerkannten Gemeinden müssten da längst eine
Vorreiterrolle spielen und einen gesellschaftlichen Umgang mit Nichtjuden
innerhalb ihrer Körperschaften pflegen, wie er stets auch gegenüber jenem im
Umgang mit Juden in der Gesellschaft generell eingefordert wird. Doch davon
sind die Gemeinden weit entfernt. Anstatt die Zeichen der Zeit zu erkennen,
werden Einheitsgemeinden stets orthodoxer geführt, Übertritte – im Gegensatz
etwa zur Praxis in Israel – zusehends erschwert. Dass Gemeindevorstände
geradezu jeden auch noch so politischen Entscheid dem Primat der Rabbinate
unterstellen, zeigt, dass vor allem verwaltet wird, anstatt mit jüdischer
Kernkompetenz wichtige gesellschaftliche Zeitfragen anzugehen und zu lösen.
Vermeintliches Dilemma.
Ein Ja für die gesellschaftliche Integration von nicht jüdischen Partnern
bedeutet längst kein Ja zur Förderung solcher Beziehungen. Ein Ja zur
gesellschaftlichen Integration verstösst nicht gegen das Religionsgesetz,
entspricht aber dem jüdischen Selbstverständnis einer Gemeinschaft, die zu
Recht gegen Ausgrenzung, Diskriminierung, Rassismus, Antisemitismus
lautstark vorgeht und eine hohe ethische Praxis im Umgang mit dem "Fremden"
kennt. Ein Ja bedeutet, dass die Einheitsgemeinden nicht zu
Ausgrenzungsgemeinden verkommen, sondern sich selbstbewusst einem Thema
stellen, das ein gesellschaftliches Phänomen ausmacht und nicht nur
Einzelfälle betrifft. Die Integration nicht jüdischer Partner bedeutet
längst keine jüdische Selbstaufgabe, sondern den selbstbewussten und leider
nicht selbstverständlichen Umgang mit einer Realität.
http://www.tachles.ch
hagalil.com 07-05-2006 |