DocAviv 2006:
"Zukunft – was ist das?"
Zahlreiche Filme beim
Dokumentationsfilmfestival "DocAviv" Anfang April in Tel Aviv gaben eine
Einblick in den israelischen Alltag, in dem die Vergangenheit vielerorts
präsent ist. Sie zeigten auch die Angst und Verunsicherung einer
Gesellschaft, die müde ist vom Krieg.
Von Julia Anspach
"Papa, warum mögen die Israelis und die Araber sich
nicht?" Die kleine Michal blickt mit großen, braunen Augen in die Kamera.
Der Film "First Lesson in Peace" (Shalom Citah Aleph) vermag auf ihre Frage
keine Antwort zu geben. Ein Liebesbrief ihres Vaters an die Sechsjährige
kommentiert das erste Schuljahr in Naveh Shalom, wo jüdische und arabische
Kinder gemeinsam in zwei Sprachen unterrichtet werden, um ein friedliches
Zusammenleben zu fördern.
Wie "First Lesson in Peace" behandeln die meisten der
israelischen Dokumentationen, die beim achten Dokumentationsfilmfestival
"DocAviv" in Tel Aviv präsentiert wurden, die aktuelle politische Situation
im Land und die Geschichte Israels auf der Folie von privaten Erlebnissen
und Familiengeschichten.
Ein
Jahr lang folgt der Vater seiner Tochter mit der Kamera, schildert die
Auseinandersetzungen mit dem zionistischen Großvater, dem politisch eher
rechts eingestellten Onkel, die Angst der Eltern und ihre Zweifel, ob die
Entscheidung, Michal auf diese Schule zu schicken, richtig war. Zärtliche
Bilder, familiäre Nähe und Intimität wechseln mit distanzierteren Aufnahmen,
die in Bilder kleiden, was der Brief beschreibt: Ein Vater weiß, dass er
seine Tochter auf den Weg ins Leben schickt, dass er sie loslassen muss,
damit sie ihren eigenen Weg gehen kann. Zugleich spiegelt der Mikrokosmos
Familie die politische und gesellschaftliche Realität. Im Klassenraum
treffen private Schicksale aufeinander und nicht selten, wird der
vorsichtige Versuch aller Beteiligter, dem Schicksal und der Geschichte der
anderen gerecht zu werden, überschattet von der täglichen Realität Israels.
Wie die Personen sich vorsichtig um eine Annäherung bemühen, so nähert sich
auch die Kamera sanft und gefühlvoll, erfasst ihre Geschichten in zärtlicher
Nähe, ohne dabei indiskret zu werden. Der Film wurde von einer
internationalen Jury mit dem "Special Jury Nomination Award" ausgezeichnet.
Zum
besten Dokumentarfilm des Jahres 2006 kürte die Jury den Film "Souvenirs",
der wieder die israelische Geschichte aus dem Blickwinkel einer
Familiengeschichte fokussiert: Der Filmemacher Shahar Cohen folgt zunächst
widerwillig dem Vorschlag seines 82-jährigen Vaters, einen Film über die
Jüdische Brigade in der britischen Armee im Zweiten Weltkrieg zu drehen, in
der jener gegen die Nazis kämpfte. Als der Sohn entdeckt, dass sein Vater
vermutlich zwei holländische Frauen schwängerte, ihnen "Souvenirs"
hinterließ, beginnt er eine intensivere Auseinandersetzung mit dessen
Vergangenheit. In Form eines Road Movies entwickelt der Sohn einen neuen
Blick auf das Leben des Vaters, als er erkennt, dass der gar nicht der Held
war, für den er ihn immer hielt. Parallele Rückblicke an einzelnen Stationen
verknüpfen auf interessante Art die Gegenwart mit dem Gewesenen und
ermöglichen dem Zuschauer eine Reise in die Vergangenheit.
Unterwegs von Italien nach Holland streifen Vater und Sohn
auf deutschen Autobahnen auch die deutsche Geschichte. Sie nehmen zwei
Anhalterinnen mit, die von ihren Großvätern an der Ostfront berichten. Der
Vater verbirgt seine Antwort hinter einem Schweigen. Wiederkehrende Witze
und anzügliche Bemerkungen über Frauen in den verschiedenen Ländern wirken
eher abstoßend als, wie wohl beabsichtigt, unterhaltsam. Sie dämpfen
Empathie und Sympathie, wenn es nach einer überraschenden Wende zum Ende und
Höhepunkt des Films, dem Treffen des Vaters mit seiner einstigen Freundin in
Holland kommt.
"Souvenirs" wurde mit einem Preisgeld von 60.000 NIS (etwa
10.000 Euro) belohnt. Trotz der Kompilationen historischen Filmmaterials mit
aktuellen Aufnahmen, die filmisch gelungen sein mögen, eröffneten andere
Filme einen einfühlsameren Blick auf die Geschichte ihrer Figuren, so
"Cemetery Club".
Zu
Recht wurde diesem Film große Anerkennung zuteil. Die Filmemacherin Tali
Shemesh dokumentierte fünf Jahre lang die wöchentlichen Treffen der "Mount
Herzl Academy", einer Gruppe älterer Männer und Frauen, die sich wöchentlich
auf dem Friedhof auf dem Herzlberg in Jerusalem treffen, um aktuelle und von
ihnen gewählte und vorbereitete Themen zu diskutieren. "Jeder bringt einen
Klappstuhl mit", lautet Punkt Zwei der Satzung, die der Club sich selbst
gibt. Nach der Diskussion wird ein gemeinsames Picknick veranstaltet, zu dem
Alle etwas mitzubringen haben. Besonders im Fokus der Betrachtung befinden
sich die Großmutter und Großtante der Filmemacherin, zwei Überlebende der
Schoa. Sie stammen aus Polen und waren schon befreundet, bevor Lena, die
temperamentvolle Schlüsselfigur des Films, Minias Bruder heiratete. In der
Darstellung ihres persönlichen Verhältnisses entwickelt der Film die
Familiengeschichte, die wiederum Spiegel ist der europäischen Geschichte des
20. Jahrhunderts.
Der Film ist emotional bewegend, traurig und dramatisch,
in anderen Szenen wiederum amüsant, sogar lustig. Im Laufe der fünf Jahre
der Dreharbeiten sterben drei Mitglieder der Gruppe, andere müssen in einem
Seniorenheim leben, wohin schließlich auch die wöchentlichen Zusammenkünfte
verlegt werden. Punkt Zwei der Satzung wird entsprechend verändert, denn
Sitzgelegenheiten sind in dem Heim vorhanden. Auch das Picknick entfällt,
stattdessen muss jedes Mitglied eine festgelegte Summe für das Mittagessen
mitbringen.
Die Kamera folgt den Charakteren mit großem Respekt,
beobachtet sie oft mit gebührendem Abstand und mit großer Achtung vor den
Personen und hält andererseits viele ruhige und gefühlvolle Bilder fest. In
anderen Szenen wiederum fängt sie verstohlene Blicke ein, kurze Berührungen,
Heimlichkeiten und Unbedachtheiten, die Bedeutungen enthalten. Der Film
erhielt eine Auszeichnung für die Kameraführung sowie den "Mayor of Tel Aviv
– Yafo Award".
Für
den besten Schnitt zeichnete die Jury den Film "The Beach Boys" aus, der die
Geschichte von drei Männern, sogenannten "Womanizern" am Strand von Tel Aviv
über einen Zeitraum von dreißig Jahren erzählt.
Darüber hinaus nehmen andere der elf zuvor in die engere
Auswahl gezogenen Filme die Rolle von Frauen, insbesondere arabischen
Israelinnen, in der israelischen Gesellschaft, den Stellenwert von Religion,
die Bedeutung der Geschichte und des Zionismus in den Blick.
Viele Filme lassen eine tiefe Angst und Unsicherheit
spüren und äußern Verzweiflung über den Konflikt und Sehnsucht nach
Sicherheit und Frieden auf israelischer und auf palästinensischer Seite.
Doch kaum ein Film gibt Antworten, die meisten entlassen ihr Publikum
emotional berührt, oft schockiert und ratlos.
Sinnbildlich erscheint die Szene in "First Lesson in
Peace": Michals Schwester zeigt ihr am ersten Schultag das Gebäude und
erklärt ihr alles. Sie zeigt ihr eine Tür, hinter der eine Treppe in den
Keller führt. Dorthin soll sie laufen, "wenn es in Zukunft ein Erdbeben
gibt." Und Michal fragt: "Zukunft, was ist das?"
Weitere Informationen:
http://www.docaviv.co.il
hagalil.com 17-05-2006 |