Eine moralische Geschichte:
Petersilie
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Von Maxim Biller
Shoshi und Kohn waren zwölf Jahre, zwei Monate und drei
Tage zusammen. Dann hielt er ihr einmal die Tür nicht auf, und schon schmiss
sie ihn raus.
Kohn ging zu seinen Eltern. Er hatte sie zwölf
Jahre, zwei Monate und drei Tage nicht mehr gesehen, und vielleicht erkannte
er sie deshalb nicht wieder. Nein, nicht deshalb. Er hatte sich in der Tür
geirrt, und die beiden gutangezogenen Schwulen, die ihn hereinbaten, ihm Tee
kochten und verständnisvolle Fragen stellten, wären Kohn als Mama und Papa
natürlich viel lieber gewesen.
Bevor er ging, fragte er sie im Spaß, ob sie ihn
adoptieren würden. »Klar«, antwortete einer der beiden im Spaß. Und der
zweite fügte im Spaß hinzu: »Wir wollten schon immer den großen haarigen
Herrn Kohn im Kinderwagen durch Eppendorf schieben.«
Ein Stockwerk höher war die Stimmung ganz anders.
»Ich brauch' noch Petersilie«, sagte Kohns Mutter, als er nach zwölf Jahren,
zwei Monaten und drei Tagen wieder vor ihr stand. »Petersilie, verstehst du,
nicht Dill. Und nimm den Müll gleich mit.«
»Sag ihm«, rief sein Vater aus dem Wohnzimmer, wo er mit
dem Salz- und Pfefferstreuer den israelischen Rückzug aus Gaza nachspielte,
»er soll den Müll mitnehmen. Und wenn er wieder Dill kauft statt Petersilie,
reiß' ich ihm die Eier ab.«
Als Kohn vom Einkaufen zurückkam, sah ihn seine Mutter
mitleidig an. »Ich hab' doch Dill gesagt«, sagte sie, »und du bringst mir
Petersilie.«
»Er hat bestimmt Petersilie gekauft«, rief sein Vater aus dem Wohnzimmer. Er
räumte gerade die Westbank, naja, einen ganz kleinen Teil davon.
»Es geht mir nicht so gut«, sagt Kohn und fing an zu
weinen.
»Natürlich«, sagte seine Mutter höhnisch.
»Jetzt heult er bestimmt gleich wieder«, rief sein Vater.
»Ja«, sagte seine Mutter, »jetzt geht's schon wieder nur
um ihn.«
»Daß wir uns seinetwegen Sorgen machen, ist ihm ja egal«, rief sein Vater
beleidigt. Er hatte eben begriffen, dass Ostjerusalem auch nicht zu halten
war.
»Ja. Hauptsache, ihm geht es gut«, sagte seine Mutter.
»Genau«, rief sein Vater. »Wir könnten sterben vor Kummer
um ihn, aber nein, er leidet trotzdem weiter.«
In dem Moment klingelte Kohns Telefon. »Weißt du, mein
Dudschik«, sagte Shoshi zärtlich, »ich könnte mir doch auch manchmal die Tür
selbst aufmachen. Findest du nicht?«
»Das würdest du wirklich tun?« sagte er.
»Aber natürlich. Und jetzt komm bitte schnell zurück.«
Und so verließ Kohn seine Eltern wieder, und er hat sie
seitdem nicht mehr gesehen. Er hofft, das bleibt so noch eine Weile. Zwölf
Jahre, zwei Monate und drei Tage wären ganz okay. |