Jom haShoah:
"Kommt endlich darüber hinweg!"
Kommentar von Bradley Burston, Ha'aretz, 25.04.2006
Übersetzung Daniela Marcus
Er hat es gut gemeint. Davon bin ich überzeugt. Seine
Worte sollten hilfreich sein. Und nach Art wohlmeinender Menschen waren sie
auch tödlich.
Dies ist der vierte Schoah-Gedenktag seit dieser Brief hier eintraf. Ein
Leser aus Kennewick, Washington, reagierte auf einen Artikel über den
israelischen Astronauten Ilan Ramon und die Bildersprache der Shoah, die den
Flug, der dem Untergang geweiht war, umrahmte. Dieser Leser titelte seinen
Brief mit den Worten "Kommt endlich über die Shoah hinweg!".
"Die Nation Israel", schrieb er, muss "reifen und über die Shoah
hinwegkommen. Die Shoah ist wie das Wasser unter der Brücke, sie ist
Vergangenheit, Geschichte. Amerikaner müssen über den Revolutionskrieg, den
Bürgerkrieg, Vietnam, Granada und den Irak (Wüstensturm) hinwegkommen. So
ist das Leben. Lebt es mit allem, was Gott euch gibt und kommt über die
Vergangenheit hinweg!"
Dies ist eine Meinung, die einen gewissen Sinn ergibt, zumindest aus 9.000
Meilen Entfernung. Man will helfen, also gibt man Menschen, die immer noch
leiden und trauern, den Ratschlag, weiterzugehen und mit ihrem Leben
weiterzumachen.
Dies ist auch eine Meinung, die beweist, dass es ein langer Weg vom Staate
Washington nach Auschwitz ist und darüber hinaus zum hiesigen Staat Israel,
der es gemeistert hat, Raum zu schaffen, um alle Geister von Auschwitz unter
Kontrolle zu bringen und darüber hinaus auch diejenigen aus anderen Zeiten
zu kontrollieren, nämlich diejenigen der Inquisition, der Zerstörung des
Tempels, der Sklaverei in Ägypten und auch des Terroranschlags in Tel Aviv
während des diesjährigen Pessachfestes.
Es gibt viele unter den Lesern, die nun denken: "Oh nein, hier kommt sie
wieder, diese Litanei, das betont zur Schau gestellte Leiden, die Freude and
der Opferbereitschaft, die endlose Beschäftigung mit der Pein der Juden."
Und es gibt Leser, die in diesem Moment denken: "Bei allem Respekt, diese
Juden haben nichts von den Nazis gelernt. Sie sind in ihrem Handeln
gegenüber den Palästinensern genauso schlecht, wenn nicht schlechter."
In der Tat ist einer derjenigen, der den Schoah-Gedenktag gewählt hat, um
uns zu sagen, dass wir mit unserem Leben weitermachen sollen, der iranische
Präsident Mahmoud Ahmadinejad.
Ahmadinejad wählte –exakt getimt- den Vorabend des Schoah-Gedenktages, um
seinen neusten Rat zu äußern und den Juden im Heiligen Land zu sagen, dass
sie ihre Sachen packen und nach Europa gehen sollen – an den Ort, so sagt
er, von dem wir alle gekommen sind.
Der Führer, der im letzten Oktober zur Weltberühmtheit wurde, indem er die
Shoah einen Mythos nannte, war mit diesen Worten noch nicht zu Ende.
"Logisch betrachtet kann dieses künstliche Regime nicht überleben", sagte er
und bezog sich damit auf Israel, um uns einen zusätzlichen Ansporn zum Gehen
zu geben.
Doch dieses Mal waren seine schärfsten Mahnungen an die Europäer selbst
gerichtet. Sein Mitleid galt den Juden, die er in einem großen Gefängnis
sitzen sieht.
"Warum habt ihr sie (die Juden) gezwungen, in Palästina Schutz zu suchen?"
sagte er und wandte sich damit während einer seltenen Pressekonferenz, zu
der die ausländische Presse eingeladen war, an Europa. "Warum denkt ihr, sie
fühlen sich wohl in Palästina? Sie haben Europa wegen eurem Antisemitismus
verlassen."
"Öffnet die Türen dieses großen Gefängnisses und lasst die Menschen selbst
entscheiden. Ihr werdet sehen, sie werden in ihre Heimatländer
zurückkehren."
Somit sagt uns auch der iranische Präsident, wir sollen darüber
hinwegkommen. Weitergehen. Fortgehen. Zu unserem eigenen Wohl.
Es könnte die Zeit gekommen sein, Ahmadinejad klar zu machen, dass die
meisten von uns gar nicht aus Europa stammen und nur wenige von uns
Interesse haben, dort zu leben.
Es könnte die Zeit gekommen sein, unseren Lesern, die glauben wir seien so
schlecht wie die Nazis, klar zu machen, dass das Mitgefühl, das von
israelischen Soldaten bei vielen Kontakten mit Palästinensern gezeigt wird,
oftmals damit zu tun hat, dass diese Soldaten ein Bewusstsein für die Shoah
und die Verfolgung der Juden haben.
Jeder, der die Zeitung "Ha'aretz" kennt, weiß, dass sie sich sehr bemüht,
Misshandlungen von Palästinensern durch israelische Sicherheitskräfte
aufzudecken, um dadurch falsche Praktiken zu stoppen.
Was wir nicht tun –und das ist unser journalistisches Versagen-, ist, die
Aktionen des Mitgefühls und der menschlichen Großzügigkeit zu zeigen und
somit dazu zu ermutigen. Jeder, der die israelische Armee wirklich kennt,
kennt auch diese vielen positiven Aktionen und weiß, dass sie Teil der Art
sind, wie die Armee arbeitet.
Einige derjenigen Soldaten der israelischen Armee, die besonders mitfühlend
sind, sind in der Tat Kinder und Enkel von Schoah-Überlebenden. Hunderte und
Tausende von ihnen sind es. Für sie steht nicht zur Debatte, über die Shoah
hinwegzukommen. Sie werden einfach nicht darüber hinwegkommen. Für sie ist
jeder Tag ihres Lebens Schoah-Gedenktag. Sogar nach zwei Generationen.
Die Shoah endet nicht, selbst dann nicht, wenn man versucht, sie zu beenden.
Die Sünden der Nazis werden die Juden heimsuchen, vielleicht bis hin zur
zehnten Generation.
Nach 60 Jahren hält die Shoah verschiedene Lektionen für uns alle bereit.
Manche glauben, die Lektion sei es, anderen etwas zuzufügen bevor sie uns
etwas zufügen können. Andere glauben, die Lektion habe viel mehr mit
Mitgefühl und Toleranz zu tun, selbst wenn beides unverdient
entgegengebracht wird und man eigentlich nach Rache schreien möchte. Der
Krieg tut einem dies an. Er ersetzt Mitgefühl durch Hass.
Nur dieses eine Mal jedoch könnte es an der Zeit sein auf die Shoah als das
zu schauen, als das sie bleibt: eine Wunde, die niemals heilt, eine
Erfahrung, die über jeder Erfahrung liegt, Verständnis oder ein schwacher
Versuch von Verständnis, verbohrte mechanische Vergleiche mit gegenwärtigen
Ereignissen.
Nur dieses eine Mal nach all den Jahren lasst uns die Opfer und Überlebenden
mit Verinnerlichung, mit Mitgefühl, mit Bescheidenheit, mit Ehrfurcht und
mit Respekt in Ehren halten.
hagalil.com 26-04-2006 |