Endgültig "amtsunfähig":
Das Ende der Ära ScharonVon
Ulrich W. Sahm, Jerusalem
Während einer "sehr traurigen" Sondersitzung des
Kabinetts haben am Dienstag in Jerusalem alle Minister die Hand erhoben, um
abzustimmen, dass Ariel Scharon endgültig "amtsunfähig" sei. Das tritt
hundert Tage nach seinem Schlaganfall ein, am Freitag Abend ein. Wegen des
jüdischen Passah-Festes haben die Minister jetzt schon den Beschluss
gefasst. Es ist eine Formalität, die Ehud Olmert "für einige Tage", bis zur
Einrichtung einer neuen Regierung, vom "Ersatz-Premier" in den "amtierenden
Regierungschef" umwandelt.
Schon dem Staatsgründer David Ben Gurion fiel der junge tapfere Kämpfer
Ariel Scharon auf. Aber er traute ihm nicht. Glaubwürdigkeit war Scharons
größtes Problem, als Kommandeur bei der Armee und dann 33 Jahre lang als
Politiker. Als Soldat ignorierte er Befehle seiner Vorgesetzten und schaffte
es deshalb nicht zum Oberbefehlshaber. Als Politiker verfolgte er eine
pragmatische Linie, was weder seine blinden Gefolgsleute noch seine
hasserfüllten Feinde wahrhaben wollten. Scharon war kein neurotischer
Araberhasser oder verblendeter Siedlungsideologe. Im Laufe seiner langen
Karriere war immer wieder für Überraschungen gut.
Kein anderer Israeli war bei den Arabern so verhasst und zugleich
respektiert. Bei den Israelis galt er als gefährlicher Rechtsaußen, bis ihn
sogar die Linken zum Retter der Nation kürten. Scharon war viel länger
Politiker, als etwa die Generale Jitzhak Rabin und Ehud Barak. Keinem
anderen israelischen Politiker wurden so viele böswillige Klischees
angehängt wie "General" Scharon. Umstritten blieb Scharon bis zuletzt. Er
blieb sich selber treu, aber die Lager seiner Widersacher wechselten.
Scharon hatte immer schon ein Gespür für historische Schritte, noch ehe er
Premierminister wurde.
Die "provokative" Visite Scharons auf dem Tempelberg im September 2000, die
gemäß gängiger Propaganda den zweiten Aufstand der Palästinenser auslöste,
zählt noch zur Ära Barak. Der muss von palästinensischen Vorbereitungen zur
El-Aksa-Intifada gewusst haben. Dennoch genehmigte er mit palästinensischer
Zustimmung die "Provokation" des Oppositionschefs Scharon.
Scharon hatte in seiner Karriere viele Schritte getan, die ihn bei Israelis
wie Arabern zum mythologischen Feind machten. Seine militärischen Attacken
als Befehlshaber der legendären 101-Einheit kosteten in den fünfziger Jahren
vielen arabischen Zivilisten das Leben. Während eines Putsches des PLO-Chefs
Jassir Arafat 1970 in Jordanien empfahl er, König Hussein nicht zu retten,
sondern Jordanien in "Palästina" zu verwandeln. Mit dem befehlswidrigen
Überschreiten des Suezkanals 1973 beendete er siegreich den Jom Kippur
Krieg, brachte aber die militärische wie politische Spitze Israels gegen
sich auf. 1982 zerstörte er als Verteidigungsminister unter Menachem Begin
alle Siedlungen auf Sinai und vollzog die Räumung der Halbinsel. Wenig
später zeichnete er verantwortlich für den Libanon-Feldzug bis Beirut. Eine
Untersuchungskommission machte ihn mitverantwortlich für christliche
Massaker an Palästinensern in Sabra und Chattilah bei Beirut. Niemals wieder
dürfe er für Sicherheitsfragen verantwortlich sein, bestimmten die Richter.
Im März 2001 übernahm er nach dem größten Wahlsieg der Geschichte Israels
die Amtgeschäfte als Premierminister. In einem Interview mit Haaretz
erklärte er, biblische Siedlungen wie Eli, Schilo und Tekoa auf Dauer nicht
halten zu können. Da schon deutete der "Vater der Siedlungspolitik" das Ende
der Siedlungen an.
Scharons Vorgänger Ehud Barak hatte den Palästinensern die weitreichendsten
Zugeständnisse jemals gemacht und dennoch die Intifada geerntet. Scharon
versprach nach hunderten palästinensischen und dutzenden israelischen Toten,
den Aufstand zu beenden. Sein erster Amtsakt im März 2001 war die Verkündung
eines einseitigen Waffenstillstandes. Die Zahl der palästinensischen Toten
sank drastisch, aber Selbstmordattentate der Hamas und anderer
Organisationen forderten immer mehr israelische Tote. Unter Scharon gingen
die Friedensbemühungen zunächst weiter. Joschka Fischer, George Tenet, der
Mitchel-Report, Außenminister Schimon Peres und der amerikanische Vermittler
Anthony Zinni verliehen diesen Bemühungen ihre Namen.
Der Mord an Tourismusminister Rehabeam Zeevi und Aufnahme von dessen Mördern
in Arafats Mukata (Hauptquartier) führten im November 2001 zur Wende. Arafat
wurde unter Hausarrest gesetzt. Ein mörderischer Selbstmordanschlag am Abend
des Passahfestes 2002 führte zum Einmarsch in die Autonomiegebiete im
Westjordanland. Gleichzeitig begann Scharon, einen Sperrwall zu errichten,
zunächst wegen Drucks der Bevölkerung, um das Eindringen von Terroristen zu
verhindern und dann, um "einseitig" Israels künftige Grenzen gemäß
israelischen Interessen festzulegen. Unerbittlich bekämpfte Scharon
palästinensische Attacken mit "gezielten Tötungen" von "tickenden Bomben"
und Anführern der Hamas wie des Dschihad. Scheich Jassin und Salah Schehade
waren die berühmtesten Opfer der umstrittenen "außergerichtlichen
Hinrichtungen".
Scharon war der erste israelische Premierminister, der von "eroberten
Gebieten" sprach und einen "palästinensischen Staat" in den Mund nahm. Im
Dezember 2003 verkündete er seinen Plan der "Abkopplung" von den
Palästinensern. Im August 2005 vollzog er den Rückzug aus Gaza und setzte
mit dem Abzug aus dem Norden des Westjordanlandes der ideologischen
Siedlungspolitik ein symbolisches Ende. Er widersetzte sich der
konservativen Linie des Likudblocks und gründete kurz vor seinem Hirnschlag
die Kadima-Partei. Ehud Olmert gewann an der Spitze von Kadima die Wahlen
und will Scharons Politik fortsetzen: Keine Verhandlungen mit den
Palästinensern, eine einseitige Festlegung der Grenzen gemäß Israels
Interessen und eine Übergabe der Palästinenser in arabische Verantwortung,
Gaza an Ägypten und das Westjordanland an Jordanien. Die Entstehung eines
von Israel befürworteten palästinensischen Staates stünde dann im Ermessen
arabischer Staaten. |