Selbstmordattentat in Tel Aviv:
Philosophie des Todes
Von
Nazir Majali [1]
Es
fehlen die Worte für die angemessene Verurteilung des verabscheuungswürdigen
Angriffs in Tel Aviv[2]. Nicht nur, weil er den
Interessen des palästinensischen Volkes schadet und nicht nur, weil er den
Interessen der vielen Kriegstreiber in unserer Region dient, sondern vor
allem weil die Philosophie, die hinter ihm steht, eine Philosophie ist, die
das palästinensische Volk zerstört.
Es
ist die Philosophie des Todes, die den Tod dem Leben vorzieht. Eine
verlogene Philosophie, die sich angeblich auf den Namen Gottes und des Islam
beruft. Eine rassistische Philosophie, die auf dem grausamen Prinzip beruht,
Juden zu töten, weil sie Juden sind. In der Geschichte kennzeichnet sie
Bewegungen, zu denen zu gehören, keine große Ehre ist. Es ist eine
Philosophie von Kriegsverbrechern, deren Ziel die Ermordung unschuldiger
Menschen ist, die durch die Straßen laufen, hungriger Menschen, die in ein
Restaurant gehen, um ihr schwer verdientes Geld für eine Mahlzeit
auszugeben, ausländischer Frauen, die Tausende Kilometer gereist sind, um
ihre Familien zu unterstützen, alter Menschen, die ihr Haus verlassen
wollten und die Straße entlanggingen – Menschen, die die Mörder nicht
kannten, aber sich das Recht nahmen, ihr Leben zu fällen, obwohl sie ihnen
nichts Böses getan hatten. Es ist eine Philosophie der Feigheit – wer die
Besatzung bekämpfen will, soll die Besatzungsarmee angreifen, aber keine
unschuldigen Menschen auf der Straße.
Vom
Standpunkt der palästinensischen Gesellschaft aus ist es eine Philosophie
der Selbstzerstörung. Diejenigen, die einen jungen Mann nach Tel Aviv
geschickt haben, damit er sich in die Luft sprengt, treffen in mehrfacher
Weise ihr eigenes Volk: Sie töten den jungen Palästinenser und bringen
Trauer über seine Familie, deren Welt zerstört ist. Es stimmt ja nicht, was
über palästinensische Mütter erzählt wird – dass sie die Taten ihrer
Selbstmordsöhne verherrlichen. Keine Mutter möchte, dass ihr Sohn stirbt.
Sie
bewirken eine israelische Antwort, die die Familie verletzt, das Dorf, die
umliegenden Dörfer und vielleicht das gesamte palästinensische Volk. Sie
pflegen in jungen Palästinensern die Kultur des Todes statt die Kultur des
Lebens. Das Ergebnis dieser Erziehung ist die Schwächung der Hoffnung, der
Investition in Bildung und in kulturelles und wissenschaftliches Handeln;
mehr Hass und weniger Liebe.
Deshalb muss jeder palästinensische Patriot den Angriff verurteilen und in
ihm einen Akt des antipalästinensischen Terrors sehen. Das entlässt
natürlich nicht die Regierung Israels und ihre Sicherheitskräfte aus der
Mitverantwortung für diese Bluttat. Ihr Verhalten hat beachtlich dazu
beigetragen, das Niveau der Verzweiflung und der Blindheit anzuheben, die
eine ständig wachsende Armee von Selbstmordattentätern schaffen. Terror
entsteht nicht ohne Grund. Er ist das direkte Ergebnis der Unterdrückung,
die seit Jahrzehnten anhält. Die palästinensische Öffentlichkeit lebt in
Verzweiflung. Sie ist ein Opfer der anhaltenden Kollektivstrafen, der
grenzenlosen Demütigung. Auch auf der palästinensischen Seite sterben
unschuldige Menschen: Kinder, Babys, Frauen, alte Menschen – unschuldige
Leute werden getötet, obwohl sie nichts Böses getan haben. Für jeden
unschuldig getöteten Israeli werden rund vier Palästinenser getötet.
Das
Argument der Verzweiflung, die durch israelisches Handeln hervorgerufen
wird, rechtfertigt keinen Terror. Terror lässt sich nicht rechtfertigen.
Aber der Einfluss dieses Handelns und sein Beitrag zum Terror können nicht
verkannt werden. Auch in Israel muss die blühende Philosophie des Todes
überwunden werden, die sich nicht in Terrorangriffen ausdrückt, sondern in
der Bombardierung des Gazastreifens, in der Erstürmung von Häusern und in
Liquidierungen – das heißt in die Tötung ohne Verfahren –, in
Massenverhaftungen (es gibt zwölfhundert Verwaltungshäftlinge, gegen die
keine Anklageschrift vorliegt), in Straßensperren, in Absperrungen, in
Demütigungen und so weiter.
Als
jemand, dem es wichtig ist, dass sowohl die Israelis – seine Staatsbürger –
als auch die Palästinenser – Angehörige seines Volkes – in Frieden,
Sicherheit und Wohlstand leben, rufe ich mit lauter Stimme, die aggressive
Politik drastisch zu ändern, die zur totalen Zerstörung beider Seiten führt.
Der Beitrag ist erschienen in der deutschsprachigen Homepage der "Genfer
Initiative"
www.genfer-initiative.de. Die Übersetzung aus dem Hebräischen hat Judith
Bernstein vorgenommen.
Anmerkungen:
[1]
Der Beitrag erschien am 23.04.2006 in der israelischen Zeitung "Haaretz".
Der Autor – offenbar israelischer Staatsbürger arabischer Volkszugehörigkeit
– arbeitet als Kommentator für israelische Angelegenheiten in arabischen
Fernsehsendern und der panarabisch orientierten Tageszeitung "A-Sharq
al-Awsat" ("Der Mittlere Osten"), die in London erscheint.
[2]
Der Autor bezieht sich auf den Selbstmordanschlag eines jungen
Palästinensers am 16.04.2006 in Tel Aviv, der neun Menschen das Leben
kostete.
hagalil.com 23-04-2006 |