Kassam-Beschuss:
Palästinenser und Israel auf Kriegskurs
Von Ulrich W. Sahm, Jerusalem
"Wenn die Kanonen donnern, dann schweigen die Musen." Das
alte lateinische Sprichwort muss für den Nahen Osten ergänzt werden. "Wenn
die Kassamraketen zischen und die Artillerie donnert, versickert jegliche
politische Vernunft". Palästinenser und Israelis liefern sich reichlich
sinnlose Sticheleien. Man könnte es Krieg nennen oder Übungen im
Danebenschießen. Israel zermalmt mit scharfer Munition die Schutthalden der
ehemaligen Siedlungen im Norden des Gazastreifens. "Abschussgelände
palästinensischer Kassamraketen" nennen Militärs die menschenleeren Weiten.
Die Kämpfer der Dschihad Islami können ihre Sprengstoff gefüllten
fünf-Zoll-Wasserrohre mit angeschweißten Flügelchen nicht lenken. So fallen
sie meist in leere Felder und explodieren manchmal. Seit August ist kein
Israeli mehr Todesopfer einer Kassamrakete geworden. Dschihad Islami möchte
gerne Zivilisten treffen, verfehlt aber meist ihr Ziel. Als Palästinenser am
Wochenende verkündeten, eine Woche lang den Beschuss mit Kassamraketen
einstellen zu wollen, dementierte prompt die Dschihad Islami und
beschuldigte die Hamas, "falsche Gerüchte" in die Welt gesetzt zu haben. Ein
paar Kassamraketen in Richtung Sderot und Aschdod waren die klare Botschaft
an Israel.
"Ein Staat kann sich doch nicht einfach beschießen lassen", erklärte ein
Militärreporter die Logik hinter der lautstarken aber völlig uneffektiven
israelischen Reaktion. "Da wird nur teure Munition verpulvert." Erst nachdem
Israel den im August von Siedlern und Militärs freigeräumten Gazastreifen
zum "Ausland" erklärt hat, wird Artillerie eingesetzt und neuerdings auch
Kanonenbeschuss vom Mittelmeer und Abwurf von Bomben aus der Luft. Doch
diese Taktik kann die mobilen Abschussrampen der Kassamraketen, nichts
anderes als ein primitives Eisengestänge in der Form eines Kamerastativs,
wirklich fernhalten. Denn Beth Hanoun, Rafah und andere dichtbesiedelte
Städte liegen nur wenige hundert Meter von der Grenze entfernt. Nach dem
Abschuss von Kassamraketen aus Hinterhöfen in bewohnten Gebieten brauchen
die Palästinenser keinen Gegenschlag befürchten, weil Israel keine
Zivilisten treffen will.
Doch neben diesem sinnlosen Schlagabtausch, der auf der israelischen Seite
kaum Schaden befügt, solange Reichweite und Zielgenauigkeit der
Kassamraketen reiner Zufall sind und der israelische Beschuss auf
menschenleeres Gebiet, gibt es auch einen blutige Stichelei mit erhöhtem
Kriegspotential. Allein am Wochenende haben die Israelis etwa zwanzig
Befehlshaber der El-Aksa-Brigaden, der Fatah und anderer Milizen "gezielt
getötet". Eine Rakete auf das Fahrzeug eines Kommandanten der
Nasreddin-Brigaden tötete auch dessen Frau, seinen fünfjährigen Sohn und
einen Cousin. In Bethlehem wollten Soldaten und Geheimdienstleute Jaber
Achres der Fatah-Tanzim-Milizen verhaften. Er stürmte mit einem M-16 Gewehr
aus dem umzingelten Haus heraus, schoss auf die Soldaten und wurde tödlich
getroffen. Der Mann hatte im November 2003 zwei Soldaten am Checkpoint der
"Tunnelstraße" bei Bethlehem erschossen. Israel verzichtete auf dessen
Auslieferung, weil PLO-Chef Jassir Arafat damals den Amerikanern
versicherte, Achres verhaftet und ins Gefängnis gesteckt zu haben.
Die Palästinenser üben sich im klassischen Terrorkampf gegen israelische
Zivilisten. Kaum ein Tag vergeht, ohne dass Palästinenser mit
einsatzbereiten Sprengstoffjacken abgefangen werden. Über siebzig
"Warnungen" liegen dem Geheimdienst vor, davon 16 konkrete Hinweise. Eine
Störung des Wahltags konnte verhindert werden. Aber es steht das jüdische
Passahfest bevor und die traumatische Erinnerung an den schweren Anschlag im
März 2002 mit über 30 Toten, die meisten davon alte Holocaustüberlebende.
Das war das Zeichen für den lange zuvor geplanten Einmarsch in die
Palästinenser-Städte, die Zerstörung von Arafats Hauptquartier und die
Belagerung der Geburtskirche in Bethlehem.
Der Hamas passen die Kassam-Raketen heute nicht mehr nicht ins Konzept, weil
sie sich als Regierung etablieren will. Sie tut aber nichts, um die
Provokation gegen Israel zu stoppen. Die israelische Regierung antwortet mit
Schall und Rauch, ohne wirksam gegen die Kassam-Raketen vorzugehen, da ein
Einmarsch im Gazastreifen (noch) nicht auf der Tagesordnung steht. Sie
beschwört durch übermäßig viele Verhaftungen und "gezielte Tötungen" eine
mörderische palästinensische Rache herauf. Ein einziger großer
Selbstmordanschlag, möglichst wieder am Passahfest könnte das derzeitige
Gleichgewicht des Krieges ändern. |