Selbstmordanschlag in Tel Aviv:
Passah-Opfer vor dem Schnellimbiss
Von Ulrich W. Sahm, Jerusalem
"Ich sah die Explosion direkt vor mir", sagt ein
Taxifahrer. "Menschen lagen auf der Straße. Ich machte mich sofort aus dem
Staub. Ich hatte Angst." Ein ungewöhnlich lauter Knall erschütterte am
Mittag den Süden von Tel Aviv, an dem alten Busbahnhof. Der Schnellimbiss
"Der Bürgermeister" war schon einmal vor drei Monaten das Ziel eines
Selbstmordattentäters gewesen. Der Palästinenser sprengte sich auf der
Straße. Vermutlich hatte ein Sicherheitsmann, wie er inzwischen vor jedem
Restaurant oder Caffee in Israel steht, den Attentäter daran gehindert, das
volle Gasthaus zu betreten.
"Wir können den Attentäter nicht mehr fragen, wieso er
heute den gleichen Felafelstand gewählt hat. Vielleicht erhalten wir aber
schon bald eine Antwort seiner Drahtzieher", sagte der Vize-Polizeipräsident
von Tel Aviv, David Chen. Ein blauer Mitzubishi hatte möglicherweise den
Attentäter nach Tel Aviv gebracht. Nach einer Verfolgungsjagd wurde das
Fahrzeug am Checkpoint nahe dem Ofer-Militärgefängnis wenige Kilometer vor
Ramallah gestoppt, eine knappe Stunde Fahrtzeit von Tel Aviv entfernt. Über
das Ergebnis des Verhörs der drei Insassen des verdächtigen Autos wurde
zunächst nichts bekannt.
Derweil wurde in Jerusalem im frisch geputzten und mit
Blumensträußen geschmückten Knessetgebäude letzte Hand angelegt für die
feierliche erste Sitzung des frisch gewählten Parlaments. Die 120 alten und
neuen Abgeordneten erschienen in dunklen Anzügen. "Mit gemischten Gefühlen
eröffnen wir unsere Fraktionssitzung", sagte der amtierende Premierminister
Ehud Olmert. "Es war zu erwarten, denn die Terrororganisationen bemühen sich
ohne Pause, Ereignisse dieser Art auszuführen." Olmert sagte weiter: "Den
Anschlag haben sie wahrscheinlich nicht zufällig heute verübt." So erinnerte
Olmert an jenen Anschlag im Park Hotel in Netanja am Passahfest des Jahres
2002. Damals wurden 39 Menschen ermordet, überwiegend alte
Holocaustüberlebende. Für Ministerpräsidenten Ariel Scharon waren damals die
roten Linien überschritten worden, nicht nur wegen der vielen Toten, sondern
auch wegen der symbolischen Bedeutung eines Anschlags an einem religiösen
Feiertag. "Wir prüfen eine angemessene Antwort", schloss Olmert.
Schon am Morgen, noch vor dem Anschlag in Tel Aviv, war das israelische
Militär bis ins Stadtzentrum von Nablus vorgedrungen, wegen Informationen
über angebliche Vorbereitungen zu Terrorattacken. Wegen der laufenden
Militäraktion wurde israelischen Ausflüglern schon am Morgen verboten, die
Ruinen von Sebastia bei Nablus zu besuchen. Die Palästinensergebiete sind
seit Tagen hermetisch abgesperrt. Kein Palästinenser darf die Sperren und
Grenzkontrollen in Richtung Israel passieren. Doch es gibt immer noch
Schlupflöcher im unfertigen Sperrwall, der Teils Mauer und Teils
elektronisch gesicherter Zaun ist. Vermutlich gelang es Sami Salim Hammad
aus der Gegend von Jenin im Norden des Westjordanlandes den Wall bei
Jerusalem zu überwinden und sich nach Tel Aviv fahren zu lassen, wo er dann
im belebten Armutsviertel beim Busbahnhof explodierte. "Die Polizei ist
völlig überrascht. Wir hatten die üblichen Warnungen, aber keine konkrete
Hinweise über einen geplanten Anschlag in Tel Aviv", gestand ein
Polizeisprecher. Der Wächter vor dem Restaurant ist die letzte von
zahlreichen sichtbaren und geheimen Hürden, die rund um Tel Aviv errichtet
sind, um die Metropole zu schützen. Alle sind trotzt höchster
Alarmbereitschaft gescheitert.
"Wir müssen unser normales Leben weiterführen. Niemand sollte seine Pläne
ändern, ausgerechnet jetzt bei diesem fröhlichen Fest. Wir dürfen den
Terroristen nicht erlauben, uns niederzumachen", flehte Matan Wollach,
stellvertretender Bürgermeister von Tel Aviv. "Obgleich fast alle
Mitarbeiter der Stadtverwaltung Urlaub machten, kamen alle zum Busbahnhof um
bei der Räumung der Verletzten und der Trümmer mitzuhelfen", fügte er hinzu.
In der Tat sind dies die schönsten Tages des ganzen Jahres: angenehme
Temperaturen, Sonnenschein und nur wenige Wolken am Himmel. Das ganze Land
ist grün und mit Blumenteppichen von der Negewwüste bis Galiläa geschmückt.
Der nahöstliche Frühling dauert nur noch wenige Tage an, bis die ersten
Wüstenföhne wieder alle Pflanzen verbrennen. Das achttägige "Fest der
ungesäuerten Brote", auch Fest der Freiheit und des Auszugs aus Ägypten
unter Moses genannt, wird mit Vorliebe von den Israelis für
Familienausflüge, Festivals, "Nächte der Liebe" am Toten Meer und Grillen in
öffentlichen Parks genutzt. "Wir haben die Polizei über das ganze Land
verteilt, bis an die Grenzen unserer Kapazitäten. Wir müssen da immer eine
Balance finden, zwischen scharfen Kontrollen und dem Versuch, den Menschen
nicht die Freude zu nehmen", sagte ein Polizeisprecher.
Relativ spät übernahm die Dschihad Islami Organisation per Telefon die
Verantwortung. "Noch liegt weder das übliche Bekennerflugblatt noch das
Abschiedsvideo des Selbstmordattentäters vor", sagte ein Reporter für
Palästinenserangelegenheiten. Sollte tatsächlich diese "Organisation des
Heiligen Krieges" verantwortlich sein, wie für den Beschuss Israels mit
Kassamraketen und andere Anschläge der letzten Zeit, so gilt Iran als der
eigentliche Drahtzieher. Der islamische Dschihad wird von Teheran finanziert
und erhielt von dort in der Vergangenheit die Befehle.
Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas verurteilte traditionell den Anschlag.
Ein Sprecher der Hamasbewegung bezeichnete den Angriff in Tel Aviv als
"legitime Verteidigung". Israels Staatspräsident Mosche Katzav sprach in
seiner Rede zur Eröffnung des Parlaments von "mehr israelischen Terror-Toten
in den letzten fünf Jahren, als in den fünfzig Jahren zuvor". Doch betonte
er: "Israel verübt weder Vergeltung noch Rache. Israel bekämpft mit allen
Mitteln den Terror, um seine Bürger zu schützen." Und während der live in
Radio und Fernsehen übertragenen Rede des Staatspräsident, wurde ein
Laufband mit der Nachricht eingeblendet, dass die Zahl der Toten in Tel Aviv
auf acht angestiegen sei. Mehrere der über sechzig Verletzten schweben noch
in Lebensgefahr.
Der Selbstmordattentäter Sami Salim
Hammed war nicht einmal 16 Jahre alt und hatte das Aussehen eines
Dreizehnjährigen. Er stammte aus Kabatja bei Jenin im Norden des
Westjordanlandes. Das Kind trug in einer Tasche etwa 5 Kilo Sprengstoff,
ehe es sich vor einem Schnellimbiss sprengte und acht Menschen in den
Tod riss. Nach Angaben des israelischen Rundfunks war es der jüngste
Selbstmordattentäter, dem die Tat gelungen ist. In
Hochsicherheitstrakten israelischer Gefängnisse sitzen allerdings noch
jüngere Kinder, ab zwölf Jahren, die mit Sprengstoff losgeschickt worden
sind aber rechtzeitig abgefangen werden konnten. Ein Reporter, der diese
Gefangenen besucht hat, sagte im Rundfunk: "Gerade bei diesen Kindern
ist klar, dass sie Opfer einer Gehirnwäsche sind, die ihnen von den
Terrororganisationen verpasst wird, wenn die ihnen das Paradies
versprechen und sie so in den eigenen Tod schicken, um einen Massenmord
zu verüben." |
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