Eine Analyse:
Nach den Wahlen
in Israel
Von Reiner Bernstein
Nicht einmal die Prognosen für die Wahlbeteiligung
stimmten: Statt der vorhergesagten 66 nahmen nur 63,2 Prozent der 5.014.622
Israelis – darunter rund 600.000 arabische Staatsbürger – an den
Parlamentswahlen in Israel teil. Dass letztere fast vollständig zu Hause
bleiben und verschiedenen Boykottaufrufen folgen würden, erwies sich
ebenfalls als Fehleinschätzung, denn immerhin 56 Prozent suchten eine der
8298 Wahlkabinen auf.
Alle bekannten Meinungsumfragen deuteten ferner darauf hin,
dass mit Überraschungen bei den Parlamentswahlen am 28. März nicht zu
rechnen sei. Nur zwei Parteien war ein politischer Absturz prophezeit
worden, dem von Benjamin Netanyahu geführten "Likud" – ihm waren nicht mehr
als 17 Mandate zugetraut worden, tatsächlich jedoch musste sich die Partei
mit zwölf Mandaten begnügen – und die Partei des cholerischen "Tommy" Lapid,
"Shinui" ("Wandel"), die vollständig pulverisiert wurde. Die einzige
Überraschung gelang der Rentnerpartei "Gil" ("Alter"), die aus dem Stand
sieben Sitze errang.
In
den einstigen Hochburgen der Entwicklungsstädte im Süden Israels fuhr
"Likud" katastrophale Ergebnisse ein. Die Vermutung ist nicht von der Hand
zu weisen, dass innerparteiliche Rebellen um Silvan Shalom, Limor Livnat –
beide wurden im Sommer 2005 von ihrem Parteivorsitzenden zum Ausscheiden aus
der Regierung als Außenminister beziehungsweise Bildungsministerin gezwungen
– und um Reuven Rivlin, den bisherigen Parlamentspräsidenten, nicht ruhen
werden, bis sie Netanyahu zum politischen Rückzug gezwungen haben. Kaum
jemand scheint ihm eine Träne nachzuweinen. "Wir hassen ihn", gehörte zum
öffentlich vermittelten Repertoire während des Wahlkampfes.
Gleichwohl hat der Ausgang der Knessetwahlen einige Bestürzung ausgelöst.
Die unter Rassismus-Verdacht stehende Partei "Unser Haus Israel" des 1978
aus Moldawien eingewanderten Avigdor Lieberman, der die arabischen
Staatsbürger lieber heute als morgen loswerden will, hat mit elf Mandaten
fast zu "Likud" aufgeschlossen. Die nicht weniger chauvinistische
Nationalreligiöse Partei/Nationale Union errang neun Sitze, und die
ultraorthodoxen Sefardischen Torawächter ("Shas") sitzen künftig mit zwölf
Abgeordneten in der Knesset. Auf der anderen Seite des
politisch-zionistischen Spektrums haben sich die Erwartungen von Yossi
Beilin, dass seine "Meretz/Yachad" mit zehn Abgeordneten rechnen könne,
nicht erfüllt, mit gerade der Hälfte zieht sie ins Parlament. Dagegen haben
sich die drei (vorwiegend) arabischen Parteien, die Vereinigte Arabische
Liste, die Demokratische Front ("Chadash") und die National-Demokratische
Liste ("Balad") mit zehn Mandaten behauptet. "Mehr Religiöse und Araber,
weniger Frauen und Siedler" überschrieb "Haaretz" einen ihrer Berichte.
Staatspräsident Moshe Katzav hat naturgemäß den Vorsitzenden der größten
Partei mit der Regierungsbildung beauftragt. Ehud Olmert konnte zwar nicht
an das politische Charisma des seit dem 4. Januar im Koma liegenden Ariel
Sharon anschließen, aber an seiner "Kadima" ("Vorwärts") führt kein
parlamentarischer Weg vorbei. War der Partei unter Führung ihres Übervaters
noch im Dezember 2005 ein überwältigender, an die absolute Mehrheit
heranreichender Durchmarsch vorhergesagt worden, so kann sich der amtierende
Ministerpräsident auf nur 29 Gefolgsleuten im Parlament einigermaßen
verlassen. Der neue Vorsitzende der Arbeitspartei, Amir Peretz, kam mit 19
Abgeordneten über einen Achtungserfolg nicht hinaus, dennoch scheint seine
innerparteiliche Stellung fürs erste nicht gefährdet zu sein. Allerdings
muss er unter Beweis stellen, dass er auf der "sozialen Agenda" seines
Wahlprogramms beharrt. Die erste Nagelprobe wird er zu bestehen haben, wenn
er das ungeliebte Verteidigungsministerium ablehnt, weil er das angestrebte
Finanzministerium nicht erhält. Denn die politischen Tage von Shaul Mofaz
sind gezählt. Der bisherige Amtsinhaber hatte das Gewichtsverhältnis
zwischen Militär und Politik bis zum äußersten zugunsten seiner Generäle
verschoben und damit die Regierung selbst zu Zeiten Sharons mit seinem
doktrinären Sicherheitsdiskus vor unangenehme vollendete Tatsachen gestellt.
Die
zweite Herausforderung, der sich Peretz gegenübersieht, wird er im
Zusammenhang mit der Regierungsbildung insgesamt bestehen müssen. Vor dem
28. März hatte er dem Wahlvolk versprochen, "unter keinen Umständen" eine
Koalition mit "Likud" und den Rechtsparteien einzugehen. Diese Zusage stellt
sich mittlerweile als brüchig heraus. Der Verweis Olmerts, gegebenenfalls
Avigdor Lieberman ins Kabinett aufnehmen zu wollen, quittierte Peretz
zumindest öffentlich mit Schweigen, während andere Abgeordnete seiner Partei
darin einen "casus belli" erblicken wollen. Sieht man einmal vom
öffentlichen Imageschaden ab, den Peretz durch seine Zurückhaltung auslöste,
wird man ihm zugute halten müssen, dass Olmerts Aussage nicht mehr als eine
taktische Drohkulisse darstellt, um die Begehrlichkeiten der Arbeitspartei
niederzuhalten.
Denn
ohne sie müsste der neue Regierungschef Politik mit einer Koalition
betreiben, deren Handlungsfähigkeit äußert begrenzt ist. Die im ersten
Grundgesetz von 1958 vorgesehene vierjährige Legislaturperiode dürfte sie
kaum durchstehen, so dass eine "Tradition" fortgesetzt wird, der sich alle
Regierungen seit 1992 beugen mussten. Dass die Rentnerpartei, die ihren
Erfolg der neoliberalen Wirtschaftspolitik des früheren Finanzministers
Netanyahu verdankt und in allen anderen politischen Fragen ein
unbeschriebenes Blatt ist, den nächsten Wahlkampf überleben wird, ist höchst
ungewiss. Ihr Vorsitzender Rafael Eitan verordnete noch in der Wahlnacht
seinem Team eine Ruhepause, denn "wir sind nicht mehr die jüngsten", und wer
jene Knessetsitze einnimmt, wenn der eine oder andere Kandidat ausfällt,
steht in den Sternen. "Gil" sei eine Tragödie und nicht mehr, schrieb eine
Zeitung.
"Zu
wenig Ideologie, zu wenig Kampf um die Menschenrechte", hielt Shulamit
Aloni, die alte Dame von "Meretz", ihrer Partei im Wahlkampf vor.
Tatsächlich machten Rücktrittsforderungen an die Adresse von Beilin
öffentlich die Runde, als die ersten Auszählungsergebnisse bekannt wurden.
Kein persönliches Charisma und ein halbherziger Kampf gegen die Besatzung
und die jüdischen Siedlungen gehörten zu den Standardvorwürfen, den sich der
israelische Repräsentant der "Genfer Initiative" innerparteilich stellen
musste. Manche kreideten ihm an, dass er zu schnell auf eine
Regierungsbeteiligung unter Führung Olmerts zusteuere, bei der die fünf
Abgeordneten aufgrund ihres geringen Gewichts nur verlieren könnten. Die
Anzeige, in diesem Bündnis für den Verzicht auf achtzig bis neunzig Prozent
der Westbank zu sorgen, sei purer Illusionismus.
Beilin musste einräumen, dass seine Partei in den Kibbutzim, in den
arabischen Dörfern und in den urbanen jüdischen Zentren an Stimmen verloren
habe. Viel zu spät entdeckte er die Problematik seiner Aussage, dass die
Überwindung des politischen und sozialen Sekundärstatus der arabischen
Bevölkerung auf die Zeit nach dem Ende der Konfrontation mit den
Palästinensern jenseits der Grenzen verschoben werden solle. Andere Kritiker
wiederholten die grundsätzliche Rüge, dass Beilin nicht gleichzeitig an der
Spitze der unabhängigen "Genfer Initiative" stehen und Vorsitzender einer
Partei sein könne. Es war Beilins innerparteilicher Konkurrent Ran Cohen,
der seinem Vorsitzenden in diesen dramatischen Stunden mit der Bemerkung
half, dass das enttäuschende Abschneiden von der gesamten Partei zu tragen
sei.
Die
Koalitionsspekulationen blühen. Alle möglichen Varianten werden
durchgespielt, wobei nur die eine Konstante keinen näheren Betrachtungen für
wert befunden wird: Obwohl drei Viertel aller arabischen Stimmbürger eine
jüdische Partei gewählt haben, steht ihre Einbindung in das Kabinett nicht
zur Debatte. Desto lebhafter wird die Frage diskutiert, ob die nur bedingt
zionistische "Shas" und die antizionistische Partei Vereinigtes
Tora-Judentum mit sechs Abgeordneten in die künftige Regierung aufgenommen
werden sollen. Die parlamentarische Mehrheitsarithmetik scheint dabei eine
vorrangige Rolle zu spielen, aber auch ein Bewusstseinswandel in beiden
Parteien: Das theologische Credo hat abgewirtschaftet, die Preisgabe von
Teilen des Heiligen Landes komme einer Lästerung Gottes gleich. Der Messias
hat sich nicht gezeigt, um die Evakuierung der Siedler aus dem Gazastreifen
und vier Siedlungen im Norden der Westbank zu verhindern.
Da
Olmert weitere "schmerzliche Territorialverzichte" angekündigt hat und auch
diesmal die göttliche Intervention nicht zu erwarten steht, konzentrieren
sich die ultraorthodoxen Parteien auf einen Kurs, der ihnen auch bisher am
Herzen lag, allerdings als Instrumente zur Erringung der politischen
Herrschaft – auf die Erringung wirtschaftlicher Kompetenz und auf die
Verstärkung der finanziellen Ausstattung ihrer religiösen Bildungs- und
Erziehungseinrichtungen, wenn auch nach wie vor möglichst ohne staatliche
Kontrolle über deren pädagogische Curricula. Zur Kehrseite der Medaille
gehört die wachsende Akzeptanz der Religionsparteien durch bislang strikt
säkulare Israelis, weil diese sich von den wüsten Zügen des Politikbetriebs
ihrer Parteien abgestoßen fühlen.
Beobachter des Kräftemessens neigen deshalb zu der Vermutung, dass die
Umsetzung der Programmatik von Arbeitspartei, Rentnerpartei und
ultraorthodoxen Parteien den Staatshaushalt in einem nie gekannten Ausmaß
belasten dürfte, so dass – um das gesellschaftspolitische Gleichgewicht zu
wahren – der schon auf Yasser Arafat und Machmud Abbas zielende Slogan, sie
seien keine Partner, allemal auf "Hamas" übertragen werden kann. Die
heftigen innenpolitischen Auseinandersetzungen in der Westbank innerhalb der
Islamischen Widerstandsbewegung sowie mit, "Fatah" und Abbas verleihen so
dem gegenwärtigen Stillstand in Israel eine zusätzliche Verschnaufpause.
Politikern in Jerusalem kommt gegenwärtig nichts Besseres zustatten als die
Selbstdemontierung der Palästinenser durch ihren neuen Außenminister Machmud
al-Zahhar. Dass dieser aufgrund seines Wirkens allein im Gazastreifen
international vollkommen isoliert ist, dass Abbas' Weigerung, Ismail Haniyeh
zur Arabischen Gipfelkonferenz nach Khartum mitzunehmen, dass die
finanziellen Hilfszusagen arabischer Staaten kaum umgesetzt werden und dass
sich die PLO ungeachtet der schweren humanitären Krise im Gazastreifen
standhaft weigert, in die von Arafat angelegte "Kriegskasse" Einblick
gewähren zu lassen – alles dies gehört gegenwärtig zu dem Schachspiel, in
dem die Figuren neu positioniert werden.
Vor
wenigen Tagen schrieb der Kommentator von "Haaretz", dass die USA den Preis
ihrer Zustimmung zu Olmerts Politik in die Höhe treiben und von Israel den
Rückzug auf die Grenzen von 1967 verlangen werden. Erfahrungen aus der
Vergangenheit würden zeigen, dass sich israelische Führer letztendlich dem
Diktat aus Washington beugen. Diese Prognose mag abwegig oder zumindest
verfrüht erscheinen, denn noch geht der Prozess der Kolonisierung der
palästinensischen Gebiete weiter. Die Fortsetzung der Besatzung, schrieb die
Jerusalemer Politikwissenschaftlerin Naomi Chazan, drohe den Charakter des
Konflikts von einer nationalen in eine religiös-kulturelle Konfrontation zu
transformieren und ihn damit der Kontrolle zu entziehen.
Viele
Zeichen deuten jedoch darauf hin und werden durch den Wahlausgang bestätigt,
dass große Teile der israelischen Bevölkerung des Konflikts mit den
Palästinensern müde geworden sind, weil er ihnen einen zu hohen Preis an
politischer, ethischer und sozialer Substanz abgefordert hat. Nach
Ermittlungen der israelischen Nationalbank rangiert das Land unter den 23
entwickeltsten Staaten bei den Kinderzulagen an 22. und bei den Altersrenten
an 19. Stelle, so dass die "Jerusalem Post" der Regierung eine
Wirtschaftspolitik à la Marie-Antoinette bescheinigte.
Insofern hat die von der politischen Rechten vorgenommene Stilisierung der
Wahlen zu einer Volksabstimmung über Olmerts Absichten weiterer Rückzüge aus
der Westbank eine Abfuhr erhalten. Der Ruf wird lauter, das Listen- durch
ein Persönlichkeitswahlrecht zu ersetzen, wodurch jeder Kandidat politische
Verantwortung zeigen muss, statt sich hinter die Anonymität seiner
Parteimaschinerie zu verschanzen.
Dass
die Palästinenser im Blick auf das Ende der Okkupation skeptisch bleiben,
ist nachvollziehbar, sollte aber nicht in einer "self-fulfilling prophecy"
als ohnmächtige Opfer münden. Trotz des Besatzungsregimes stehen ihnen viele
politische Optionen zur Verfügung. Doch zunächst ist auch bei ihnen
Konfliktmanagement dringlich, zunächst im Innern. Wenn "Hamas" nicht wie die
frühere Autonomiebehörde als Papiertiger auf dem Teppich landen will, muss
sie dafür sorgen, dass die ungezügelte Gewalt und die Gesetzlosigkeit ein
Ende finden. Machmud Abbas ist gegenwärtig das einzige Bollwerk gegen das
Chaos; er weiß, warum er prinzipiell auf der Kontrolle der
Sicherheitsdienste besteht, auch wenn diese ihre Aufgaben nur schwer
wahrnehmen können. Auf Dauer kann er den Spagat zwischen den harten
Interessen der israelischen Politik und der Regellosigkeit nicht
durchstehen, die sich auch das neue palästinensische Parlament leistet.
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hagalil.com 06-04-2006 |