Religiöses Leben schützt vor Rassismus und Antisemitismus nicht:
Opium fürs Volk
Editorial von Yves Kugelmann, Tachles, 17. März 2006
Furchtbar fruchtbar. Als der Philosoph Karl Popper
den "fruchtbaren Zusammenprall der Kulturen" als notwendige Chance
beschrieb, konnte er nicht ahnen, dass Jahrzehnte später der furchtbare
Zusammenprall der Kulturen herbeigeredet und somit die Furcht vor dem
Anderen als Doktrin etabliert würde. Nach dem Kalten Krieg machten sich
Politiker auf und verkündeten die neue Weltordnung, die neue Feindbilder
schuf. Eine fatale Ideologisierung und destruktive Dialektik hat den
wichtigen Dialog zwischen Kulturen und Religionen auf der weltpolitischen
Bühne seither überlagert, was dazu führt, dass Gesellschaften den Umgang mit
Religionen im Sinne der Vernunft durch Angst ersetzt haben.
Die Verfassungsbibel. Religiöse Menschen sind intoleranter,
religiöses Leben schützt vor Rassismus und Antisemitismus nicht – im
Gegenteil. Zu diesem Ergebnis kommt eine noch nicht publizierte Studie der
Universität Genf, die mitten in die seit Monaten geführte Debatte um
Religion prescht und gerade Geistliche frontal in die Verantwortung nehmen
wird. Denn Imame, Pfarrer, Priester und Rabbiner werden künftig nicht im
Namen Gottes, sondern im Namen der Verfassung Demokratieverständnis, Respekt
und den religiösen Frieden predigen müssen, wenn sie nicht Handlanger eines
neuen Faschismus werden wollen, der Religion bis zur Perversion
instrumentalisiert.
Gottlos. Religion und Glaube sind "zurück" – westliche Gesellschaften
und politische Systeme sind überfordert. Die Debatten im Umgang mit
Religionsgemeinschaften, mit dem Glauben, der neue Fokus auf
Religionsunterricht, religiöse Vielfalt, interreligiöses Zusammenleben,
kulturell bedingte unterschiedliche Gesellschaftsvorstellungen, Korrelation
und Friktion zwischen Religion und säkularem Staat zeigen, dass Politikern,
Geistlichen, Medien, Behörden und Erziehungsverantwortlichen die
Kernkompetenz im Umgang mit Religion vollends abhanden kommt. Denn die
Religionen sind nicht zurück – weder in westlichen Staaten noch auf
weltpolitischer Ebene. Sie waren immer da, doch oft ignoriert. Viele, viele
Kriege sind im Namen Gottes geführt worden. Eine scheinheilige Allianz von
Kriegern und Religionsführern vermochte immer wieder das archaische
menschliche Bedürfnis nach Glauben für ihre Sache zu instrumentalisieren.
Und so haben die Religionen längst ihre Unschuld verloren, die ihnen einst
vielleicht immanent sein mochte, aber oftmals gerade durch jene geopfert
wurde, die innerhalb einer Religionsgemeinschaft mit Macht ausgestattet
sind.
Dialog nach innen. Jüdische Verantwortliche sind seit jeher stark im
interkulturellen und -religiösen Dialog engagiert. Allen voran hat Alfred
Donath, Präsident des SIG, diesen Effort in den letzten Jahren verstärkt,
was unter anderem zur Gründung des Rats der Religionen führte. Doch dieser
Dialog nützt dann nichts, wenn er nur nach aussen und nicht auch nach innen
geführt wird. Alle Mitglieder solcher Gesprächsgruppen müssen vermehrt in
ihre Gemeinschaften hinein wirken, aufbegehren, wenn innerhalb ihrer
Gemeinden Intoleranz herrscht oder Geistliche die Religion gegen die
Verfassung ausspielen möchten. Wenn das geschieht, wird die Genfer Studie in
einigen Jahren das Resultat aufzeigen, welches sich gerade für religiöse
Menschen eigentlich gehören sollte: die Einhaltung des Gebots der
Nächstenliebe anstatt der Ausgrenzung anderer. Am internationalen Tag gegen
Rassismus vom kommenden 21. März kann zumindest symbolisch ein erstes
Zeichen in diese Richtung gesetzt werden.
http://www.tachles.ch
hagalil.com 18-03-2006 |