Rechte Gewalt:
Erst jagen, dann schlagen
Im Berlin-Friedrichshain kommt es immer
öfter zu gewalttätigen Übergriffen von Neonazis. Nun soll ein Bürgerbündnis
gegen Rechts gegründet werden.
Von Peter Sonntag
Jungle World 8 v.
22.02.2006
Der bisher letzte Übergriff, den die Antifa Friedrichshain
dokumentiert, ereignete sich am 1. Februar. Ein alternativer Jugendlicher
wurde am frühen Abend in der U-Bahn in Richtung Friedrichshain von drei
Neonazis angegriffen und verletzt. Am 21. Januar attackierten Neonazis
mehrere Linke. Am 14. Januar wurden vier Spanier gejagt, am 13. Januar waren
es wieder vermeintliche Linke, die aus einer Kneipe heraus von Neonazis
angegriffen und verfolgt worden.
Am 6. Januar kam es zum bislang schwersten Angriff in diesem
Jahr. Unabhängig voneinander wurden fünf Jugendliche in der Rigaer Straße
angepöbelt und gejagt. Einer der Angegriffenen trug eine gebrochene Hand und
Schürfungen davon. Die Täter waren schwarz gekleidet, vermummt und mit
Schlagstöcken und Reizgas bewaffnet. Es handelte sich offenbar um Neonazis,
die im linken Szenekiez gezielt nach Personen Ausschau hielten, die alleine
unterwegs waren. Am früheren Abend sei ein Mitglied der verbotenen
Kameradschaft Tor und Anti-Antifaaktivist im Waf-Salon, einer linken Kneipe,
gesehen worden, berichtet die Antifa Friedrichshain in diesem Zusammenhang.
Der Ostberliner Stadtteil Friedrichshain verzeichnet derzeit
die meisten rechten Übergriffe in Berlin. In einer gemeinsam von der
Opferberatungsstelle Reach Out und dem Antifaschistischen Pressearchiv und
Bildungszentrum Apabiz vorgelegten Chronologie rechtsextremer,
rassistischer, antisemitischer und homophober Übergriffe im Jahr 2005 sind
25 Angriffe dokumentiert, gegenüber sieben im Jahr 2004. Insgesamt sei die
Zahl der Gewalttaten und verbalen Attacken in Berlin im Jahr 2005 beinahe
doppelt so groß gewesen wie im Jahr 2004. Der Großteil der Übergriffe habe
"im öffentlichen Raum an Bahnhöfen stattgefunden".
"Sicherlich haben die 'Freien Kräfte' ein Auge auf den Kiez
geworfen", sagt Marie Roth von der Antifa Friedrichshain. "Es ist am
vorletzten Wochenende auch ein Neonazi aus dem Umfeld der verbotenen
Kameradschaft Tor gesehen worden, der in der Rigaer Straße die Lage prüfte,
während sich andere in einem Park versteckten und warteten, ob sie wieder in
den Nordkiez eindringen können."
Als Antwort auf die Gewalt von Neonazis soll ein
Bürgerbündnis gegen Rechts gegründet werden. Eine "Initiative
Friedrichshain" lud Institutionen ein und verteilte auch Flugblätter im
Kiez. Am Dienstag voriger Woche fand das erste Treffen statt. Neben
Anwohnern waren ein Vertreter der Antifa, Helga Seyb von Reach Out, die
VVN/BdA-Friedrichshain, Vertreterinnen von der Mobilen Beratung gegen
Rechtsextremismus und die Bezirksbürgermeisterin Cornelia Reinauer
(Linkspartei) anwesend. Auf der Versammlung wurden Ideen für ein gemeinsames
Vorgehen gesammelt. Es soll eine breite Öffentlichkeit im Bezirk darüber
aufgeklärt werden, dass es diese rechtsextreme Gewalt gibt.
"Der Rassismus in Friedrichshain nimmt schleichend zu", sagte
Ulrich Spies (SPD) auf der Veranstaltung. Es müsse etwas getan werden, damit
die Neonazis nicht glaubten, sie agierten in einem gesellschaftlichen
Umfeld, das ihnen gewogen sei. Helga Seyb von Reach Out meint: "Wenn
deutlich wird, dass die Jugendlichen nicht alleine sind, sondern auch
Unterstützung aus der Gesellschaft erfahren, sehen die Neonazis, dass es für
sie politisch teurer wird, derartige Angriffe durchzuführen."
Einen Teil des Problems sieht Seyb auch bei der Polizei.
Bisher sei es jedoch so, dass die Übergriffe oft als "Auseinandersetzungen
zwischen Jugendlichen" wahrgenommen würden. Als Beispiel schildert sie einen
Fall, bei dem ein Migrant von vier Neonazis aus einem fahrenden Auto heraus
zunächst angepöbelt und dann auch tätlich angegangen worden sei. Als der
Angegriffene sich zu Wehr gesetzt habe, hätten die Täter die Polizei gerufen
und den Beamten erzählt, dass sie angegriffen worden seien. Letztlich sei
das Opfer des Übergriffs festgenommen und der Fall in der Kartei
"Verkehrsdelikte" abgeheftet worden.
Neonazis riefen im Falle einer Gegenwehr immer öfter selbst
die Polizei, erläutert Seyb. Dies führe auch zu der mangelnden Bereitschaft
auf Seiten der Opfer, den Vorfall anzuzeigen. Sie befürchteten oft selbst
Repressalien, teilweise seien die Daten der Anzeigenden auch schon in die
Hände von Neonazis gelangt. "Die Polizei müsste eine höhere Sensibilität
dafür haben, Geschehnisse auch in eine andere Richtung zu interpretieren",
sagt sie.
Die Ideen, dem Problem beizukommen, reichen von
Plakataktionen bis zum Einrichten einer Beratungsstelle, bei der sich sowohl
Betroffene von rechter Gewalt als auch Bürger, die Übergriffe oder rechte
Propaganda beobachten, melden können. Zudem müssten auch weiterhin rechte
Aktivitäten genau dokumentiert werden.
Diese rechte Gewalt im Kiez um den U-Bahnhof Samariterstraße
ist indes nicht neu. Im November 1992 wurde der Antifa und Hausbesetzer
Silvio Meier dort von Neonazis erstochen. Bis ins Jahr 1991 hätten Neonazis
immer wieder besetzte Häuser in dem Stadtteil angegriffen, erzählt Said, ein
ehemaliger Hausbesetzer und langjähriger Anwohner in Friedrichshain. "In der
Gegend vom Ringcenter an der Frankfurter Allee bis zum S-Banhof Ostkreuz
waren und sind die Neonazis aktiv", sagt er. "Wir sind damals oft mit
Knüppeln die Runde gelaufen", erzählt er weiter, "und ab 1993 war zumindest
im Südkiez Ruhe. Damals war es auch noch so, dass du bei den Häusern
geklingelt hast und immer zehn Leute mitgekommen sind." Außerdem habe es
immer wieder Aktionen an Treffpunkten von Neonazis gegeben.
Gigi Müller von der "Unabbhängigen BürgerInneninitiative
Kommunikatives Leben in Zusammenarbeit", die den Mieterladen in der
Kreutziger Straße betreibt, wohnt schon lange im Kiez und hat sowohl die
Auseinandersetzungen damals als auch die jüngsten Übergriffe erlebt. Sie
meint: "Viele Häuser sind in den letzten Jahren geräumt oder privatisiert
worden, und viele ehemals Linke haben sich zurückgezogen. Dadurch wurde
öffentlicher Raum aufgegeben, den die Neonazis jetzt besetzen können."
hagalil.com 23-02-2006 |