Ein blindwütiger Anti-Islam droht zur Torheit unserer
Tage aufzusteigen. Seitdem auch der deutschen Mehrheitsgesellschaft
urplötzlich klar geworden ist, dass die 3,2 Millionen Muslime nicht nur
vorübergehend hier leben werden, wächst offenbar die Angst vor einer
muslimischen Leitkultur. Da passt es, wenn innermuslimisch z.B. über einen
"Euroislam" nachgedacht wird.
Der Zeitgeist richtet die Strömungen, da stärken
Antiislamparolen nicht nur außereuropäisch separatistische und radikale
Kräfte. Trotzdem haben in Europa die Moderaten das Übergewicht, jedenfalls
lassen sich die Reaktionen auf die Karikaturendebatte so deuten. Wer
Euroislam denkt, will weder Krieg noch Getto, sondern die Moderne,
Demokratie und Menschenrechte mit einem europäischen Islam verbinden, doch
manchen kommt die Religion zu kurz. Anderen scheint eine Art
"Immigranten-Islam" denkbar. Würde das die Islamisierung Europas befördern?
Noch wird nachgedacht. Was auch immer die Ergebnisse sind -
religionskonservativ Isolierte, konservativ-religiöse Demokraten und
Reformorientierte werden inmitten der vielschichtigen muslimischen
Gesellschaft an Europas Zukunft mitschreiben. Desintegrierende Armut,
Bildungsnot und der mediengefällige religiöse Fundamentalismus sind eben
nicht die ganze Wahrheit.
Läßt sich hier jüdische Geschichte vergleichend nutzen? Wir
feiern die Kampfeskraft der Makkabäer, erfreuen uns der List der Prinzessin
Esther, erinnern an zehn Plagen gegen Ägypten, an den militärisch
disziplinierten Marsch mit Moses durch die Wüste, an geradezu
konterrevolutionäre Unruhen und Strafen des Untergangs.
Biblische und weltliche Geschichte gehören für uns zusammen,
aber es wurde vergessen, warum sich vor 100 Jahren jüdische Arbeiterinnen
und Arbeiter politisch und gewerkschaftlich organisierten und die jüdische
Frauenbewegung zwar mittelständisch, aber deutlich wegweisend war. Auf den
langen Kampf unserer Altvorderen um sozialen Fortschritt, Bürger- und
Menschenrechte, auf die Rebellion der jüdischen Jugend gegen das sie
ausschließende Bildungsprivileg sollten wir stolz sein. Heute denken
muslimische Intellektuelle über Konstanten und Variablen ihrer
Lebenstrategien nach, während jüdische Eliten vor allem in Übersee und
Israel das Erbe tradieren, reformieren, revolutionieren und analysieren.
Dank der Nachfahren der Emigranten von damals fließt das auch in unsere
jüdische Gegenwart zurück.
Hierzulande ist der christlich-jüdische Dialog zur Metapher
der "wiedergutmachenden" Lehre aus dem Holocaust geworden, aber das
europäische Alltagsdenken wird davon nur bedingt durchdrungen. Wo bleibt die
Vision des modernen europäischen Judentums? Wer antizipiert den europäischen
Islam?
In Deutschland hat überdies das Dilemma der verdrängten deutschen
Identität zwar zum jüdischen Folklorismus beigetragen, doch alter wie neuer
Antisemitismus und feindseliges Misstrauen gegen den Islam sind in die
gesellschaftliche Mitte gerutscht. Wie schwerfällig wurde auf die wegen der
deutschen Vergangenheit so besondere, aber einwanderungstechnisch fast
unauffällige jüdisch-russischsprachige Einwanderung reagiert. Migration ist
das Stichwort! Aus ihren Migrantencommunities werden Juden und Muslime zum
politischen Perspektivenwechsel beitragen! Sprachen und Religion sind nicht
nur Indikatoren für Herkunft, Kultur, Bildung. Fehlen integrative
Alternativen, reproduzieren sich daraus eigene Identitäten und
Gemeinschaften.
60 Jahre nach Kriegsende, fast drei Generationen nach dem Holocaust, 16
Jahre nach dem Ende des sozialistischen Versuchs, will sich Europa als
Kontinent einen, doch die Kulturen schleifen im bürokratischen Getriebe mit
und nationale Vorlieben überdecken den europäischen Gedanken. Seit dem 11.
September 2001 wird über zivilisatorischen Zusammenprall, Zusammenbruch und
"Kulturkampf" geschwätzt, der Dialog des Denkens, der "Trialog" zwischen
Juden, Christen und Muslimen hat weniger Gewicht. Dafür sprechen diese
widerlichen Karikaturen, deren Physiognomien nicht nur mich an die Judenhatz
im "Stürmer" erinnerten. Wer das als Meinungs- und Pressefreiheit verkürzt,
kettet aus Dummheit oder Arroganz religiöse Empfindsamkeiten und Gewalt
aneinander, nicht besser als jene, die aus all dem ihr politisches Kapital
schlagen. Cool down! Genug gefeindet! Des Abendlandes pauschalisierender
Blick auf alle Muslime fällt auf Morgenländisch nicht weniger pauschal aus.
Da wäre der Diskurs über europäische jüdische Identität und Euroislam
nützlich.
Zwar ist Judentum Religion und Nation, Hannah Arendt befand
sogar: "Das jüdische Volk hat seine Einheit in Israel", und auch uns geht es
um das Irdische und Himmlische, um Vielfalt in der Einheit, um Religion und
A- oder Antireligiosität. Der Islam hingegen ist Religion, begründet keine
nationale und keine ethnische Identität, eine säkulare ist folglich im Islam
nicht möglich, sondern wäre ein Widerspruch in sich. Wenn manche die
Glaubensgrundsätze leichter nehmen als andere, bleiben sie dennoch bei der
Religion. Wie geht es weiter? Wir müssen uns individuell und als
Gemeinschaften zwischen Gegenwart und Zukunft neu positionieren und einiges
vom Alten dringend verlernen. Die europäischen Gemeinsamkeiten, Differenzen,
das Neben-, Mit- und Nacheinander vom Standpunkt der eigenen
Zugehörigkeiten, des künftigen Europa und der globalisierten Welt enthalten
auch unbequeme Fragen. Für die Antworten brauchen wir Zeit.