Nach den palästinensischen Wahlen:
Die Zeit drängt
Von Reiner & Judith Bernstein
Der überwältigende Erfolg von "Hamas" am 25. Januar wird
in die Annalen der israelisch-palästinensischen Beziehungen eingehen. Selbst
die pessimistischsten Prognosen der Meinungsforscher haben einen derartigen
Triumph der Islamischen Widerstandsbewegung nicht erwartet. "Fatah", die
bisherige Mehrheitsführerin im Parlament, liegt in Trümmern und hat sofort
die Konsequenz gezogen. Die von ihr geführte Autonomiebehörde hat ihr Amt
zur Verfügung gestellt. Ihrem Präsidenten Machmud Abbas bleibt nichts
anderes übrig, als sich um die Zusammenarbeit mit den Siegern zu bemühen.
Ihr Jubel ist kaum verhallt, da rätseln die Kommentatoren
allerorts über die politische Zukunft in der Region. Ägyptens Präsident
Hosni Mubarak und Jordaniens König Abdullah II. kommt der Sieg von "Hamas"
ungelegen, weil er Befürchtungen weckt, dass ein starker Funkenflug von
Sympathien auf die eigene Bevölkerung überspringen und ihre autoritären
Regimes untergraben könnte. Nachdem das saudische Herrscherhaus "Hamas"
jahrelang finanziell tatkräftig unterstützt hat, hält es sich jetzt zwar
offiziell zurück, doch kann es keinen Zweifel daran geben, dass auch die
Wahhabiten dem Tag mit Bangen entgegensehen, an dem die Islamisten im
eigenen Land zum Sturm gegen ihr System des schwelgenden Luxus und der
politischen Pflichtvergessenheit gegenüber der immer größeren Zahl von
unzufriedenen und arbeitslosen Jugendlichen und dem Heer der sozial
Unterprivilegierten blasen.
Der Aufschwung von "Hamas" kommt einer schweren Niederlage
der israelischen Politik gleich. Ariel Sharon hat in den vergangenen Jahren
alle Hebel in Bewegung gesetzt, ihre Führungsgarde zu eliminieren und damit
der Bewegung das Rückgrat zu brechen. Das Gegenteil hat er bewirkt: Der
politische Islam hat in der palästinensischen Bevölkerung tiefe Wurzeln
geschlagen. Auch Sharons Nachfolger Ehud Olmert verfügt nur über zwei
Optionen: Da "Hamas" aus der künftigen Autonomieregierung nicht wegzudenken
ist, kann er sie nach dem Vorbild Sharons als "Partner" ablehnen, oder er
muss sich zu einem entschiedenen Kurswechsel der eigenen Politik bequemen,
zu dem sich Sharon nicht durchringen wollte. Olmerts Rede auf der
diesjährigen Konferenz in Herzliya hat beide Wege offengelassen: Er
verabschiedete sich von der Behauptung des jüdischen Rechts auf alle Teile
des "Landes Israel", ohne jedoch die Grenzen der territorialen
Kompromissbereitschaft (Sicherheitszonen, große Siedlungsblöcke, Jerusalem)
zu markieren. Im selben Atemzug verlangte er das vollständige Ende
palästinensischer Terrorakte.
Hoffnungen auf einen "neuen Olmert" sind also verfrüht. Zwar
hat er vor rund zwei Jahren einen "pragmatischen" Kurs eingeschlagen, der
sich von seinem Mentor insoweit absetzte, als er auf den alleinigen Einsatz
militärischer Mittel zu verzichten neigte. Aber jetzt in Herzliya hat er
sich explizit auf jene Interpretation der "Road Map" des internationalen
Quartetts von 2003 berufen, die den Zusammenhang von Gewalt und
Siedlungspolitik auf den Kopf stellte – so als ob die Palästinenser über
einen souveränen Staat verfügten, in dem das Machtmonopol zugunsten allseits
legitimierter Organe entschieden sei.
Yossi Beilin, Vorsitzender von "Yachad/Meretz", hat zu Recht
moniert, dass seine Regierung den Aufstieg von "Hamas" begünstigt hat.
Dennoch wiederholen die USA und die Europäische Union ihre alte
Fehleinschätzung, wenn sie die künftige Autonomiebehörde zu Methoden des
politischen Friedens ermahnen. Eine solche Forderung wäre nur dann
konsequent, wenn sie gleichzeitig die israelische Regierung auf die
Prinzipien der Zweistaatenregelung entlang der Grenzen von 1967 verpflichten
würde. Doch davon ist der Westen weit entfernt. Statt dessen, darauf hat der
Jerusalemer Soziologe Meron Benvenisti noch einmal hingewiesen, begünstigt
er die Fortsetzung des Besatzungsregimes, indem er die Palästinenser
finanziell und wirtschaftlich unterstützt, anstatt den Druck auf die
Regierung in Jerusalem zu erhöhen, die Freiheitsberaubung der Palästinenser
zu beenden. Offensichtlich hat es sich in den westlichen Hauptstädten noch
immer nicht herumgesprochen, dass sie damit auch dem Leben der israelischen
Bevölkerung in Frieden einen hohen Dienst erweisen würden.
Allem Anschein nach läuft die nächste israelische Regierung
auf eine Koalition zwischen Olmerts "Kadima" und Peretz' Arbeitspartei
hinaus, die sich in ihren Standpunkten im Blick auf die Palästinenser kaum
unterscheiden: Für beide scheidet die Idee eines souveränen und
lebensfähigen Staates Palästina aus – vorerst zumindest. Abgesehen von den
politisch-ethischen Implikationen der Besatzung haben beide Politiker noch
immer nicht begriffen, dass die Verlängerung des Status quo beiden Völkern
größte menschliche Opfer abverlangt. Oder soll man vermuten, dass sie diese
geringschätzen? Dass Beilins Partei zwischen "Kadima" und Arbeitspartei
zerrieben zu werden droht, weil ihre Wähler in das Lager von Olmert oder
Peretz abwandern, vermindert das Gewicht der säkularen Opposition weiter,
nachdem sich Tommy Lapids "Shinui" – alles andere als ein Freund des
Ausgleichs mit den Palästinensern – von der politischen Bühne gerade
verabschiedet hat. Nur die religiösen Parteien können auf ein geschlossenes
Wählerpotential vertrauen.
Nach den Wahlen stehen auch die Palästinenser vor einer
politisch neuartigen Verantwortung. Arafats trübes Erbe gehört endgültig der
Vergangenheit an. Eine "Arbeitsteilung" zwischen "Fatah" und "Hamas", bei
der die eine die internationalen Beziehungen und die andere die Innenpolitik
übernimmt, wird nicht funktionieren. Die Regierung in Jerusalem wäre
ihrerseits gut beraten, den zu fünfmal lebenslänglicher Haft in einem
Gefängnis bei Tel Aviv einsitzenden Marwan Barghouti umgehend freizulassen,
weil nur er dem weiteren Siegeszug der Islamisten Einhalt gebieten könnte.
Da diese Aussicht jedoch gering ist, wird "Hamas" selbst unter Beweis
stellen müssen, dass sie zur Politik fähig ist.
Die Positions- und Machtkämpfe in der Bewegung deuten darauf
hin, dass sie die Zeichen verstanden hat. Schon ihr Wahlprogramm bemühte
sich um mehr politischen Realismus, denn die palästinensische Bevölkerung
lebt nicht von der Ideologie allein, sondern verlangt nach einer Regierung,
die ihren Anteil zu einem Leben in Würde und Sicherheit leistet. In den
vergangenen Jahren hat sie Abschied von der Illusion genommen, den Staat
Israel vernichten zu können. Insofern bietet der Erdrutsch eine gewaltige
Chance: Will "Hamas" nicht wie ihre Vorgängerin als Papiertiger auf dem
Teppich des politischen Versagens landen, muss sie im Innern mit Chaos und
Korruption aufräumen und im Verhältnis zu Israel messbare politische
Ergebnisse vorweisen.
In den vergangenen Tagen ist verschiedentlich die Auffassung
vertreten worden, dass sich im bilateralen Verhältnis bis zum Ausgang der
Knessetwahlen am 28. März nichts Wesentliches entscheiden werde. Doch die
Zeit drängt. Versagen beide Parteien gegenüber den Herausforderungen,
versinkt ihr Land in neuen Kreisläufen sinnloser Konfrontation.
Reiner Bernstein zeichnet für die deutsche Homepage der
"Genfer Initiative"
www.genfer-initiative.de verantwortlich. Judith Bernstein ist
Mitglied der Jüdisch-Palästinensischen Dialoggruppe München. |