Ergebnisse am Donnerstag:
Palästinensische Wahlen haben schon begonnen
Von Ulrich W. Sahm, Ramallah
In Ramallah kleben oder hängen überall bunte Plakate mit
dem Gesicht von eher unbekannten Figuren, mit oder ohne dem goldenen
Felsendom im Hintergrund. Fatah-Kandidaten lassen Jassir Arafat als Geist
hinter sich erscheinen. Bei den so genannten "Unabhängigen" gibt der ebenso
tote Hamas-Chef Scheich Jassin die Gesinnung zu erkennen. Der Wahlkampf
tobt, während die Wahlen schon am Samstag begonnen haben.
Weil die 55.000 Sicherheitsleute am Mittwoch, dem eigentlichen Wahltag,
die mehrfach gestürmten und teilweise mit Waffengewalt zerstörten Wahllokale
beschützen sollen, anstatt selber zur Wahlurne zu schreiten, wurde ihnen
erlaubt, schon vier Tage vorher in ihren Heimatdörfern zu wählen. Ob die
"unabwaschbare" Tinte, in die sie einen Finger tunken müssen, wirklich vier
Tage hält und Wahlbetrug ausschließt, weiß niemand. Der vorzeitige Wahlgang
der Sicherheitsleute war ein Kompromiss. Die Fatah hat ihn durchgesetzt,
weil jede einzelne Stimme entscheidet. Nur zwei Prozent trennt die
staatstragende Fatah von der extremistischen Hamas in der Wählergunst bei
den letzten Umfragen vom Samstag. Das ist weniger als die Fehlermarge.
Die Wahlkommission hat 1.132.499 wahlberechtigte Palästinenser ermittelt.
Hinzu kommen noch 128.000 aus dem israelisch kontrollieren Ostjerusalem. Von
denen haben nur etwa 6.000 ein Recht, in einem Postamt zu wählen, was die
Israelis in letzter Minute genehmigt haben. Nur wer sich persönlich
registrieren konnte, darf in Jerusalem wählen. Alle Übrigen werden eine
halbe Weltreise durch Straßensperren und über Umgehungsstraßen unternehmen
müssen, um in einem Wahllokal jenseits der von Israel errichteten Mauer ihre
Stimme abzugeben. Deshalb, aber auch, weil Jerusalems Palästinenser
fürchten, ihre israelischen Ausweise und entsprechende Vorrechte zu
verlieren, verzichten die Meisten auf ihre Wahlbeteiligung in den
Autonomiegebieten, jenseits der Stadtgrenzen.
1025 Wahllokale werden am Mittwoch zwischen 7:00 und 19:00 Uhr (Ortszeit)
offen sein, mit der Option einer zweistündigen Verlängerung. Mit ersten
Ergebnissen wird erst am Donnerstag gerechnet. "Die Urnen sollen nicht
transportiert, sondern in den Wahllokalen ausgezählt werden, um Betrug zu
verhindern", hieß es. Für die erste Wahl ihres Parlaments seit 1996 haben
die Palästinenser das deutsche System übernommen. 66 Abgeordnete werden über
eine nationale Liste ins Parlament gelangen, weitere 66 über 16
Bezirkslisten. Auf der nationalen Liste der Fatah stehen fast nur unbekannte
Namen, während bekannte "starke Männer" wie Mohamad Dahlan, Dschibril
Radschoub oder Saeb Erekat in den Bezirken um ihre politische Zukunft
kämpfen. Sie rechnen mit der Clan-Solidarität, um die populären Konkurrenten
der Hamas zu schlagen.
Ganze zehn Mandate soll die Nummer eins auf der nationalen Fatah Liste
bringen: Marwan Bargouti. Der sitzt mit fünfmal Lebenslänglich im
israelischen Gefängnis, was beim palästinensischen Wähler als Bonus gilt.
Der verdrossene und nach eigenen Angaben erschöpfte wie amtsmüde Präsident
Mahmoud Abbas hat es immerhin geschafft, eine Verschiebung der Wahl um sechs
Monate zu verhindern. Das hatte seine Fatah-Partei gefordert, angesichts des
bevorstehenden Fiaskos, von der Hamas überrundet zu werden. Die korrupten
Monopolisten wollten noch weitere sechs Monate ihre lukrativen Geschäfte
weiterführen. Ganz offen hatten Fatah-Politiker gehofft, dass Israel die
weitgehend symbolische Wahl in Jerusalem verbieten könne, um so einen
Vorwand zu haben.
Bald wird Abbas einen Politiker mit der Regierungsbildung beauftragen.
Bargouti sitzt aber im Gefängnis und Nabil Schaath, Nummer zwei auf der
Liste, wäre der wenig populäre, weil korrupte Zweite, falls sich die Fatah
behaupten kann. Weil es aber mangels absoluter Mehrheit einer Partei zu
einer Koalition kommt, dürfte sich Abbas nach einem Kompromisskandidaten
umschauen, der Amerikanern wie Israelis genehm wäre und die palästinensische
Wirtschaft retten könnte: Salam Fayad. Dieser als sauber geltende
Finanzexperte dürfte mit seiner eigenen unabhängigen Partei nicht einmal die
Zwei-Prozent-Hürde überwinden. Aber hinter den Kulissen gibt es schon
Absprachen, ihn zum Nachfolger von Ahmed Qureia zu ernennen. Das meldete das
israelische Fernsehen. Ein EU-Diplomat in Ramallah gesteht: "Der wäre uns am
liebsten."
Das hat einen konkreten Grund: Im November beschloss Premierminister Qureia,
die Gehälter um 40 Prozent anzuheben. Mit vollen Händen schöpfte er aus dem
Fond europäischer Steuergelder. Die EU pumpt jährlich bis zu einer Milliarde
Euro in die Palästinensergebiete und finanziert 60 Prozent ihres Haushalts.
Wegen dieses Missbrauchs hat die europäische Kommission die Überweisung von
60 Millionen Euro gestoppt. Ab Februar hätte die Autonomiebehörde kein Geld
mehr, Gehälter zu zahlen. Nur Salam Fayad könnte die Autonomie vor ihrem
Zusammenbruch bewahren, sagen Diplomaten. Und was passiert, falls die Hamas
die Wahlen gewinnt? "Darüber wollen wir lieber gar nicht erst nachdenken..."
© Ulrich W. Sahm / haGalil.com
hagalil.com 23-01-2006 |