Es stimmt schon, die Araber haben Ariel Sharon vielleicht noch mehr
verabscheut, als die Europäer das getan haben, aber es gibt keinen
Kontinent, auf dem die Wende, die sich im Ansehen Sharons vollzogen hat,
drastischer war. Zur Erinnerung: Noch vor fünf Jahren wurde Sharon von den
französischen Behörden zur "Persona non Grata" erklärt, erst vor vier Jahren
wollten die Belgier ihn als Kriegsverbrecher vor Gericht stellen. Vor drei
Jahren marschierten Menschenmassen durch die Straßen Europas und nannten
Sharon wegen der amerikanischen Operation im Irak "Mörder". Und dann kam die
Loslösung, und Sharon wurde zum Lieblingskind Europas.
Seine Gegner waren wie vom Winde verweht. Und natürlich konnte nur ein
Zyniker der Größenordnung Sharons die roten Teppiche, die der alte Kontinent
vor ihm ausbreitete, voll auskosten. Nur wenige Weine haben ihm so gut
geschmeckt, wie der Wein, den er im letzten Sommer bei Jacques Chirac
gekostet hat. Dem Melodrama von Sharon und Europa liegt natürlich der
Beschluss des Premiers zu Grunde, seine Siedlungspolitik völlig zu ändern.
Die Entwicklung der Ereignisse zeigt jedoch auch, wie Europa seine Politik
gestaltet und sie dann wieder verändert. Als Sharon Anfang 2001 zum Premier
gewählt wurde, brach Europa der kalte Schweiß aus. Während man in Washington
fast umgehend beschlossen hatte, mit ihm zusammenzuarbeiten, quälte sich
Europa mit der Frage ab, wie man mit dem "Schlächter von Sabra und Shatila"
überhaupt etwas zu tun haben könne. Alle Augen richteten sich auf Paris, den
Hüter der Stempel der "Menschenrechte" (zumindest glaubt Frankreich das),
die Hauptstadt der Realpolitik.
Einige Monate nach den Wahlen beschloss der französische Präsident, ganz
diskret einen Beamten des Außenministeriums zu einem Treffen mit Sharon zu
schicken. Entgegen aller Erwartungen verlief das Treffen ausgezeichnet, und
es wurde Chirac wärmstens empfohlen, mit Sharon zusammenzuarbeiten. Chirac,
und mit ihm fast ganz Europa, fiel es jedoch schwer, sich von dem
teuflischen Image Sharons loszusagen. Auch das gelungene Treffen zwischen
den beiden, vor vier Jahren im Elysee-Palast, konnte daran nichts ändern.
Der Boykott gegen Sharon dauerte eigentlich an, bis sich die Vorbereitungen
auf die Räumung Gazas auf den Weg machten.
Die Loslösung machte Sharon auch in den Augen Europas zu einem Staatschef
historischer Größenordnung. Noch wichtiger war jedoch, dass es Sharon
gelang, die traditionelle europäische Gleichung zu ändern, die besagte, dass
die Israelis die Bösen und die Palästinenser die Guten sind. Dies kann
durchaus als einer seiner wichtigsten Erfolge bezeichnet werden.
Nach dem Schlaganfall Sharons herrscht in Europa nun das Gefühl vor, es
sei etwas verpasst worden. Man fragt sich, was Sharon noch alles erreicht
hätte. Diese Nostalgie kommt uns bekannt vor: Auch Itzhak Rabin wurde in
Europa vor allem nach seinem Tode bewundert.
Welche Schlussfolgerung sollte Israel aus dem Verhalten Europas ziehen,
das immer wieder den Zug verpasst? Vor dem Hintergrund der späten Liebe
Europas für Sharon, schlägt der jüdische Philosoph Alain Finkielkraut den
Israelis vor, sich nicht zu lange mit der ewigen Frage "Was wird man sagen"
zu befassen. "Die erste moralische Frage lautet, was sagen wir über uns
selbst. In jedem Land, auch in Israel, gibt es zwei wirkende Kräfte - die
eine, die etwas tut, und die andere die ein moralisches Urteil abgibt. Nach
dem Massaker in Sabra und Shatila, demonstrierten die Israelis dagegen nicht
wegen der Angst, "was wird man sagen", sondern um etwas zu sich und über
sich selbst zum Ausdruck zu bringen". Die Schlussfolgerung Finkielkrauts ist
klar: "Man braucht nicht unbedingt den Gesichtspunkt der Welt, um mit sich
selbst zufrieden zu sein, wenn man das Richtige tut."
Diese Schlussfolgerung würde Sharon sicherlich unterschreiben.