Trügerische Eindrücke:
Eine neue Rolle für die Religion im Nahen Osten
Von Marc Gopin *
Common Ground Nachrichtendienst, 22. Dezember
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Washington DC - Organisierte Religion ist in den letzten
Jahren zu einem Ausgangspunkt für die radikalsten politischen Ideologien der
heutigen Zeit geworden. Der Zusammenfluss von religiösem Extremismus,
rassistischen Ideologien und einem richtigen Blutdurst lassen einen
erschauern. Aber Eindrücke können trügen in der modernen Zeit.
Der enorme Einfluss der Massenmedien auf das, von dem, was
unser Alltagsleben und unsere Kultur beherrscht, ist nicht zu verleugnen.
Die Realität kann jedoch anders aussehen. Die große Mehrheit der Menschen
betrachtet ihre Religion immer noch als im Wesentlichen friedvoll und, wenn
gefragt, sind die meisten eher für vernünftigen Kompromisslösungen in Bezug
auf die Probleme, mit denen der Nahe Osten konfrontiert ist. Doch hat
technologisches Können Extremisten mit einer unglaublichen Macht
ausgestattet, mit der sie die meisten Menschen durch die Gewalt von
Explosivstoffen einzuschüchtern vermögen.
In diesem Klima aus Angst und Misstrauen gibt es etwas, was
einen großen Unterschied bei der Entwicklung von Beziehungen zwischen
Feinden ausmacht. Es ist die Kraft der Gesten, die zwischen den Kulturen
ausgetauscht werden. Was uns zum großen Teil definiert ist das, was wir tun
und jeder wartet darauf, dass der Raum, durch Unsicherheit gekennzeichnet,
mit Taten gefüllt wird. Leider wird der größte Teil jenes Raumes durch
Extremisten gefüllt, während die Mehrheit von uns eingeschüchtert und
verwirrt schweigt. Das muss so nicht sein.
Als ich im vergangenen Jahr 300 intellektuellen, jedoch
harten Damaszenern in ihrem wichtigsten Kulturzentrum, der Assad-Bibliothek,
gegenüber stand, und sie mir schwere Fragen zu den USA und zu Israel
stellten, während die Kameras ihres nationalen Fernsehsenders liefen und in
Anwesenheit ihrer wichtigsten baathistischen Journalisten, war mir bewusst,
dass jedes Wort in meiner Rede und während der 90 Minuten Frage und Antwort,
sehr leicht verdreht werden konnte. Ich entschloss mich, wiederholt
ehrbezeigende Gesten zu verwenden, die beständigen Aspekte der alten
syrischen Kultur hervorzuheben und ihr großes Potenzial, erneut als eines
der Kulturzentren der Welt aufzusteigen, wenn sie sich hin zu einer
demokratischen und offenen Gesellschaft bewegen würde.
Je positiver ich über ihre Kultur sprach, je ehrlicher ich
war hinsichtlich der Fehler aller Regierungen und Streitkräfte, die meines
Landes eingeschlossen, umso leerer wurden die dämonisierenden Bemerkungen
über mein Land, von einigen der Anwesenden vorgetragen, doch passten diese
Äußerungen dann nicht mit der Stimmung dieses Abends zusammen, den ich mit
ihnen verbrachte.
Meine Geste, auf ihre Kultur zuzugehen und der Umstand, dass
ich nicht ohne ein persönliches Risiko alleine vor ihnen stand, waren
ausschlaggebend für die Rührung dieser Menschen, einige sind zu sehr guten
Freunden geworden.
Wie die meisten von uns auch haben sie nicht die Möglichkeit,
die Schnelligkeit der politischen Veränderungen in ihrem Land zu
beeinflussen. Wenn diejenigen von uns, die in Demokratien leben, dem
Extremismus oft machtlos gegenüberstehen, kann man sich vorstellen, wie es
für jene in undemokratischen Staaten sein muss. Wirkungsvolle Gesten jedoch
überwinden Trennendes und ermöglichen den Menschen über feindliche Grenzen
hinweg die Saat für zukünftige Lösungen zu streuen.
Der Schlüssel zum Erfolg waren ein endlos langes und
geduldiges Zuhören trotz empörender Vorwürfe, eine sture Entschlossenheit,
das Beste in der Kultur des Feindes zu würdigen sowie eine Kultur der
Diskussion zu entwickeln um damit die Kultur der Dämonisierung zu ersetzten.
Das ist das, was Israel und Palästina jetzt brauchen, wobei eine große Zahl
von Menschen auf beiden Seiten beteiligt sein müssen, nicht nur
Privilegierte und Intellektuelle. Das ist, was der gesamte Nahe Osten
braucht.
Wir benötigen viele Gesten über feindliche Grenzen hinweg, so
viele, um damit - in Anlehnung an Malcolm Gladwell - einen "Tipping-Point"
für zwischenmenschliche Beziehungen zu schaffen wie in Irland, wo es dadurch
gelungen ist, das Grundwerk für politische Verhandlungen über wichtige
Fragen zu legen.
Die meisten von uns sind entsetzt über religiös motivierte
Selbstmordattentate und eifrige Enthauptungen, die weltweit im Namen des
Islam ausgeführt wurden. Wie Studien aus der Gesellschaftspsychologie
zeigen, ist es überraschend einfach, ausgebildete, privilegierte Menschen
durch autoritäre Figuren zu Folterern zu machen. Auch ist bekannt, dass die
meisten der Attentäter gebildet und nicht arm sind. Radikale Geistliche
vereinnahmen das Denken vieler entfremdeter Menschen, doch können wir diesem
Trend mit einer neuen strategischen Allianz entgegentreten.
Säkulare und religiöse Menschen müssen den Mut finden,
aufeinander zuzugehen und gemeinsam ein neues Bündnis zwischen einer
toleranten, moderaten Religion, den wichtigsten Institutionen und der
Rechtsstaatlichkeit bilden. Der Staat muss als ein Ort gesehen werden
können, in dem Religion willkommen ist und respektiert wird, der aber
gleichzeitig keiner religiösen und politischen Aggression nachgibt. Mit
einiger Anstrengung kann dies erreicht werden, für die Zukunft von Palästina
und Israel ist es essenziell, für viele andere Teile der Welt ebenso.
Die Gefahr durch den Islam tritt immer mehr in Form von
radikaler Gewalt gegen den Staat in Erscheinung, während die Gefahr durch
das Judentum, dem Christentum und dem Hinduismus sich durch den
manipulativen Gebrauch staatlicher Strukturen für radikale Ziele äußert. In
allen Fällen gibt es nur einen Weg in die Zukunft, nämlich die Allianz
zwischen den Menschen, ob religiös oder nicht, um zusammen gemeinsame
demokratische, gewaltfreie Werte auszuarbeiten. Dieses zusammen mit mutigen
Schritten, mit dem Anderen auf der anderen Seite der Trennungslinie zu
kommunizieren, ist eine wirkungsvolle Rezeptur für die Schaffung von
friedlichen Beziehungen zwischen den Nationen und innerhalb der
Gesellschaften.
* Marc Gopin ist James Laue Professor für Weltreligionen,
Diplomatie und Konfliktlösung an der
George Mason Universität.
Dieser Artikel wurde in Zusammenarbeit mit Common Ground News
Service (CGNews) veröffentlicht.
Quelle: Common Ground News Service, 22. Dezember 2005
Übersetzung: K. Badr |