Nachrichtenblatt:
Ein jüdisches Medium aus der DDR
Von Ralf Bachmann
Jüdische Korrespondenz
01/2006
Laurence Duchaine, Doktorandin an der Hochschule für
Literatur und Geisteswissenschaften in Lyon, stellte im JKV als Ergebnis
eines fünfjährigen Studiums der Materie ihre Arbeit "Juden in der DDR im
Lichte des Nachrichtenblatts des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der
DDR" vor. Es war einer jener Abende, an dem das Publikumsinteresse die
Erwartungen weit übertraf.
Das Bemerkens- und Nachdenkenswerteste des Abends war,
dass nicht ein deutscher Wissenschaftler, sondern eine junge Französin die
erste komplexe Darstellung und Analyse des Inhalts des offiziellen Organs
der jüdischen Gemeinden der DDR schrieb, das immerhin fast vier Jahrzehnte,
von 1953 bis 1990, erschienen ist.
Man darf das durchaus als typisch betrachten. Laurence
Duchaine war beim Quellenstudium aufgefallen, dass in der Zeit vor der Wende
die sehr unterschiedliche und mit durch die Teilung geprägte Entwicklung der
Jüdischen Gemeinden in beiden deutschen Staaten bei den Historikern kaum
eine Rolle spielte. Selbst Ignaz Bubis, sagte sie, hat erklärt, die Juden in
der DDR seien so unbedeutend, die könne man vergessen.
Die Ignoranz ließ zwar spürbar nach, eine gewisse
Voreingenommenheit ist aber geblieben. Die meisten Forscher kannten nur eine
Perspektive: die von oben nach unten. Das Nachrichtenblatt, das zuletzt
vierteljährlich mit einer Auflage von 1800 bis 2000 erschien und an alle
Gemeindemitglieder sowie Interessenten ging, empfanden sie nur als
uninteressant und als Spiegelbild der Instrumentalisierung der Gemeinden in
der DDR. Eine Differenzierung gab es nicht. Sie habe sich aber davon nicht
entmutigen lassen und festgestellt, dass das Blatt einen spürbaren
Entwicklungsprozess durchlaufen hat.
Sie sieht eine "Formatierungsphase" bis etwa 1970 mit
zahlreichen Mängeln und Phrasen, einer deutlichen Differenz zwischen Schein
und Realität, aber auch einem starken Gestaltungswillen. Die zweite Phase
nennt sie die der Umgestaltung (etwa 1971 bis 1985). Seit dem Eintritt von
Dr. Kirchner in die Redaktion verbessert sich die Gestaltung, öffnet sich
das Blatt für die Vorgänge in der Welt und für den jüdisch-christlichen
Dialog, verstärkt sich der literarische Charakter. In der dritten und
letzten Etappe etwa ab Mitte der 80er Jahre widerspiegelt sich im Blatt
zunehmend das "Erwachen 5 Minuten vor 12", die Aktivierung des jüdischen
Gemeindelebens und eines schöpferisch-polemischen Geistes, symbolisiert
durch die Gruppe "Wir für uns", durch Kritik an der Politik der DDR und die
Forderung nach Entschuldigung.
Unter
den Anwesenden waren auch Autoren des Nachrichtenblattes wie Irene Runge und
langjährige Leser. So konnte es nicht ausbleiben, dass die Aussprache
lebhaft wurde und neue Erkenntnisse brachte, auch für Laurence Duchaine, die
einräumte, bisher keine Kontakte zu Zeitzeugen gehabt zu haben. Diesen
Mangel spürte man ihrem Vortrag durchaus an. Sie stand unter dem Eindruck
der von ihr selbst als einseitig empfundenen Nachwende-Publikationen, ohne
dem das notwendige Wissen über die Konzeption der Macher des Blattes und die
Wechselwirkung zwischen Gemeindeleben und Redaktion gegenüberstellen zu
können.
Nicht alle ihre Thesen wurden demzufolge akzeptiert, aber
ein Lob für die große Arbeit gezollt, die sie bewältigt habe. Man sprach
über die Schwierigkeiten und Erfolge der Umbruchzeit auch in der
Redaktionsarbeit. Deutlich wurde zugleich, wie froh Gemeindemitglieder und
alle anderen Leser in der DDR waren, das Nachrichtenblatt bei all seinen
Mängeln als Informations- und Unterhaltungsquelle zu haben.
hagalil.com 04-01-2006 |