Von Ulrich W. Sahm, Jerusalem
Am Mittwoch Abend meldeten die Nachrichten zunächst, dass es
eigentlich nichts zu vermelden gibt. Wenn in Israel weder Kasamraketen
explodieren noch Politiker etwas Bedeutsames von sich gegeben haben, dann
machen die Nachrichten mit dem jüngsten Autounfall auf. Wenn also Kamel mit
Auto zusammengestoßen ist oder umgekehrt, kann man gleich abschalten, es sei
denn, man will noch erfahren, wie viele Menschenopfer die jüngste Autobombe
in Bagdad gekostet hat.
In der Nacht des Mittwoch, kurz nach 23:00 Uhr, kam die erste
Programm-Unterbrechung: Scharon fühlt sich unwohl. Das israelische Lied
wurde nicht zuende gespielt, als das Programm erneut unterbrochen wurde.
Seitdem, inzwischen über 48 Stunden, wurde die Programmunterbrechung in eine
"offene Welle" verwandelt. Das bedeutet für die drei Kanäle des israelischen
Fernsehens und des Rundfunks, dass auch in der Nacht, rund um die Uhr, die
Zeit mit "Talkshows" totgeschlagen wird. Jeder Sender hat sich einen
Hospitaldirektor oder Neurologen als Stammgast ins Studio geholt. Aus den
verschlüsselten Bulletins machen die dann eine allgemein verständliche
Diagnose ohne mehr Gewissheit über den wahren Zustand des abgeschirmten
Patienten in der neurologischen Abteilung des Hadassa-Hospitals liefern zu
können.
Die politischen Reporter im Studio werden ständig mit neuesten
Informationen gefüttert: per Handy. Vor laufender Kamera unterhält sich da
Ayalah Hasson mit einer ihrer "Quellen". Aufgrund ihrer Fragen kann man
erraten, was man ihr erzählt. Immer wieder schaut sie auf den Bildschirm
ihres Handy und ruft begeistert: "Diese moderne Technologie der
SMS-Meldungen ist doch etwas Tolles, sogar hier im Studio informiert zu
werden." Das Laufband beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen zeigt
unverändert drei Stunden lang die Nachricht: "Jeden Augenblick ist die
erneute Operation Scharons vorüber." Der Reporter beim Hadassahospital wird
eingeblendet und nach den "neuesten Nachrichten" befragt. Aber der steht im
Pulk von hunderten Journalisten aus aller Welt und kann nur berichten,
gerade von einem Japaner oder einer Dänin interviewt worden zu sein. Das
Laufband meldet weiterhin: "Operation ist gleich beendet." Wieder bimmelt es
im Studio. Diesmal redet der Chefarzt des Schaarei-Zedek Hospitals, seit
Mittwoch der medizinische Experte im Studio, mit einem Unbekannten. Er hält
die Hand vors Handy, damit man nicht mithören kann, aber das starke
Mikrophon auf dem Studiotisch kennt keine Diskretion. "Scharon liegt immer
noch auf dem Operationstisch", verkündet er schmunzelnd, offenbar stolz, von
einer zuverlässigen Quelle unter seinen Kollegen im Hadassahospital
angerufen worden zu sein.
Nur gelegentlich kommt mal ein historischer Bericht, etwa über
Ministerpräsident Levi Eschkol, der im Amt an einem Herzinfarkt erlag, was
damals aber lange Zeit geheim gehalten werden konnte. Heutzutage wäre eine
solche Geheimhaltung undenkbar und überflüssig. Die Amtsgeschäfte und
Vollmachten sind schon an Finanzminister Ehud Olmert übergeben worden, noch
ehe Scharon zur ersten Operation unter der Narkose bewusstlos wurde. Ohnehin
ist längst klar, dass Scharon "nie mehr arbeiten" könne, selbst wenn er den
schweren Hirnschlag physisch überleben sollte. "Der letzte Akt" nennt das
Fernsehen in seinem stündlichen "Jingle" die ununterbrochene Sendewelle über
Scharons Erkrankung.
Eine kurze, mehrfach wiederholte Reportage beschreibt einen ehemaligen
Fahrer von Scharon. Der Premier ist da bei der Hochzeit einer Tochter des
Fahrers zu sehen. Ein dreißig Jahre jüngerer Scharon schwingt das Tanzbein
mit seiner verstorbenen Frau Lily. Es fällt auf, dass keinerlei Filmmaterial
über den Werdegang Scharons, über seine fast 60 Jahre andauernde Karriere
"für den Staat Israel", gezeigt wird. Zweifellos liegen die Filme schon
bereit. Aber solange Scharon lebt, wäre es geschmacklos, im israelischen
Fernsehen einen Nachruf zu zeigen, selbst wenn es sich um eine historische
Dokumentation handelt.
Die "Programmunterbrechung" bedeutet zum Beispiel, dass die
unerlässlichen live-Übertragungen von Fuß- oder Handballspielen auf den
Kanal 33 ausgelagert werden, der normalerweise die Knesset-Debatten
überträgt. Alle im Programmheft angekündigten Filme und Kinderstunden sind
kommentarlos abgesagt, solange die "offene Welle" andauert.
Von einem Sender zum anderen oder zum Radio zu zappen, um "mehr" zu
erfahren, bringt nicht viel. Es sind überall die gleichen "redenden Köpfe",
die offenbar von einem Studio ins andere ziehen. Und alle sind rund um die
Uhr nur damit beschäftigt, die kargen offiziellen Bulletins des Professors
Schlomo Mor-Josef, dem Direktor des Hadassa-Hospitals, zu interpretieren.
Letztlich, und das wird ständig wiederholt, wissen auch die behandelnden
Ärzte nicht, in welchem Zustand sich Scharon wirklich befindet, solange er
nicht aus seinem künstlichen Koma und der Narkose aufgewacht ist.